Thomas Sommer

Der Protein-Recycler

Ubiquitin ist allgegenwärtig. Das Protein steuert das lebensnotwendige Recycling-System der Zelle und entscheidet mit über Gesundheit und Krankheit. Thomas Sommer erforscht die molekularen Grundlagen seiner Funktionsweise und will damit eine Wissensbasis für Therapien der Zukunft legen.

Diese Bilder sind eine Offenbarung. Blaue Punkte tänzeln auf dem Monitor umher, es sind fehlgefaltete Proteine, die sich durch das violett eingefärbte Membransystem des Endoplasmatischen Retikulums einer lebenden Zelle bewegen. Also durch das weitverzweigte Schlauchsystem, das maßgeblich an der Herstellung, Qualitätskontrolle und Verteilung lebenswichtiger Eiweiße beteiligt ist. „Wir können erstmals in Echtzeit beobachten, wie sich defekte Proteine verhalten und wie die Zelle sie wieder abbaut“, sagt Professor Thomas Sommer. „Mit der Fluoreszenzmikroskopie können wir die ganze Dynamik des Ubiquitin-Proteasom-Systems sichtbar machen.“

Das Ubiquitin-Proteasom-System ist die Recycling-Zentrale der Zellen. Ubiquitin erledigt dabei die Aufgabe eines Etiketts: Es markiert Proteine, die aufgrund verschiedenster Gründe Fehler angehäuft haben und damit funktionslos oder sogar schädlich sind und gibt sie für die Entsorgung frei. „Die Zelle zerlegt die markierten Proteine in ihre Bestandteile und baut damit neue Proteine“, sagt Sommer, der am Max Delbrück Center die Arbeitsgruppe „Intrazelluläre Proteolyse“ leitet. „Es ist ein perfektes Recycling-System.“

Thomas Sommer hat diesem Recycling-System sein Forscherleben gewidmet – oder besser gesagt dessen vielen Bestandteilen, den Proteinen und Aminosäuren, sowie den Prozessen, die diese auslösen. Lange waren solche Prozesse nur in Form von biochemischen Datenbergen sichtbar. Jetzt macht die Fluoreszenzmikroskopie selbst aus den winzigen Ligasen, also Enzymen, die Proteine aneinanderkoppeln können und damit die Markierung fehlerhafter Proteine durch Ubiquitin erst möglich machen, tänzelnde Farbpunkte im Schlauchlabyrinth des Endoplasmatischen Retikulums – und ermöglicht somit die Analyse ihrer Bewegungsmuster und vielfältigen Wechselwirkungen.

Molekularbiologie als Konstante

Analyse der Dynamik des Ubiquitin-Proteasom-Systems mit Hilfe eines Fluoreszenzmikroskops.

Thomas Sommer ist jemand, der für seine Sache brennt. Jemand, der jahrelang eines der größten Forschungsinstitute Berlins geleitet hat, aber dabei bewusst auf dem Boden molekularbiologischer Tatsachen geblieben ist. Er kommt an diesem Morgen im schwarzroten Mini vorgefahren, parkt vor dem Haupteingang des Max Delbrück Centers und sitzt kurz danach im weiträumigen Chef-Büro. Er trägt Poloshirt und Turnschuhe, ein Kommunikator mit gutem Rezeptor für sein Gegenüber, charmant und zielstrebig zugleich. Jemand, dem das gute Argument wichtiger ist als Hierarchien. Jemand, auf den Verlass ist. Mehrfach war er Ombudsmann für Doktorand*innen, zwei Mal hat er die kommissarische Leitung des Max Delbrück Centers übernommen und das Zentrum durch unruhiges Fahrwasser gesteuert, zuletzt seit 2019. Im November 2022 räumt er den Posten und macht im kleinen Büro in Haus 31 weiter, am langen Flur mit dem grünen Noppenboden. „Wir können gerne rübergehen“, sagt er, unterschreibt schnell ein Dokument im Vorzimmer, macht mit Berliner Zungenschlag eine humorvolle Bemerkung zu dessen Dringlichkeit, und nimmt den Nebenausgang über die Außentreppe, die direkteste Verbindung zu seinem Ubiquitin.

Die Molekularbiologie ist für Thomas Sommer eine Konstante seines Lebens. Schon als Abiturient wollte er verstehen, wie Gene und Proteine funktionieren, kurz: das Leben. Später zog es ihn ans Berliner Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, dort arbeitete er mit dem Schimmelpilz Neurospora crassa, einem Organismus, der sich unter Blaulicht orange verfärbt. Sommer klonierte für seine Doktorarbeit die Gene, die für diese Verwandlung verantwortlich sind.

Ubiquitin trat 1987 in sein Leben. Er traf bei einer Konferenzreise in Boston einen Kollegen, der ihm fasziniert von diesem kleinen Protein mit 76 Aminosäuren erzählte: Es sei in allen höheren Zellen – eben „ubiquitär“, also allgegenwärtig – zu finden. Aber niemand wisse, was es bewirkt. Sommer gab den Schimmelpilz auf, arbeitete fortan mit Bäckerhefe und widmete sich voll und ganz dem geheimnisvollen Ubiquitin. „Damals war die Ubiquitin-Forschung ein ganz kleines Feld, das sich gerade eröffnete und wo klar war: es gibt viel zu entdecken.“

Der Ubiquitin-Code

Bekannt ist Ubiquitin seit den 1970er Jahren. In den 1980er Jahren klärten Aaron Ciechanover, Avram Hershko und Irwin Rose den Mechanismus dahinter auf und identifizierten Enzym-Klassen, die für die Ubiquitinierung notwendig sind, also für die Kopplung des Ubiquitins an Proteine zu deren Etikettierung. Dafür erhielten sie 2004 den Nobelpreis für Chemie. „Damals war klar, dass dieses Protein an andere Proteine angehängt wird und teilweise auch, wie dies geschieht. Aber nicht warum“, erinnert sich Sommer. Das Feld wuchs schnell. Auch Thomas Sommer trieb die Frage an, welche Zellfunktionen das Ubiquitin beeinflusst. Denn je nachdem, wie viele Ubiquitine und wie diese an Proteine angehängt werden, steuern sie neben dem Recycling eine Vielzahl anderer Prozesse in der Zelle mit, darunter den Zellzyklus und die Transkription, also den ersten Schritt der Neubildung von Proteinen aus Erbinformationen.

Als Postdoc in Tübingen stieß Sommer auf ein Enzym, das an der Kopplung von Ubiquitin an Proteine maßgeblich beteiligt ist: Ubc6. „Damals lag in der Luft, dass es eine Verbindung zwischen dem Ubiquitin-System und dem Proteasom gibt“, sagt Sommer. Er erkannte, dass Ubc6 an einer entscheidenden Stelle sitzt: an der Membran des Endoplasmatischen Retikulum. Und dass es dort mit anderen Enzymen am ersten Schritt der Qualitätskontrolle beteiligt ist, den Proteine durchlaufen müssen, um voll funktionsfähig zu ihrem Zielort innerhalb oder außerhalb der Zelle zu gelangen – oder vom Proteasom geschreddert zu werden. Ubc6 verknüpft, wie man heute weiß, fehlerhafte Proteine mit einem ersten Ubiquitin-Molekül und leitet damit deren Etikettierung ein.

Der Ubiquitin-Code ist ein grundlegendes System, das noch lange nicht verstanden ist.
Thomas Sommer
Thomas Sommer Leiter der AG „Intrazelluläre Proteolyse“

Am Max Delbrück Center baute Sommer in den frühen 1990er Jahren eine Arbeitsgruppe rund um das Ubiquitin auf. Hautnah erlebte er die turbulenten Anfangsjahre nach der deutschen Wiedervereinigung in der Forschung mit. „Es war eine Übergangszeit zwischen zwei Gesellschaftssystemen, auch in der Wissenschaft“, erinnert er sich. Im Labor blieb er seinem Thema treu. Mit der Zeit wurden immer mehr Enzyme bekannt, die an der Ubiquitinierung beteiligt sind „Es stellte sich heraus, dass Ubiquitin nicht einfach an ein Protein drangehängt werden kann, sondern Ketten aus mehreren Ubiquitin-Molekülen gebildet werden müssen“, sagt Sommer. Nach der ersten Kopplung besorgt ein weiteres von Sommer entdecktes Enzym, Ubc7, die Kettenbildung. Erst mit dieser angehängten Kette ist das Protein für die Entsorgung freigegeben.

„Es gibt eine Vielzahl unterschiedlich gekoppelter Ubiquitinketten in der Zelle, die sich auch verzweigen könne, mit jeweils eigenen Funktionen“, sagt Sommer. Die Vielfältigkeit der Informationen, die in diesen Ketten steckt und darüber bestimmt, was aus Proteinen wird, bezeichnet die Forschung als Ubiquitin-Code. „Der Ubiquitin-Code ist ein grundlegendes System, das noch lange nicht verstanden ist.“ 2016 haben Sommer und sein Team beispielsweise herausgefunden, dass nicht nur die bereits bekannten Aminosäure Lysin in der Kettenbildung als Andockstellen eine Rolle spielen, sondern auch Serin und Threonin – und damit ganz neue Verzweigungs- und Funktionsmöglichkeiten entdeckt. Und 2021 erkannten sie, dass unterschiedliche Arten von Ketten miteinander verbunden werden.

Überzeugter Grundlagenforscher

Wenn Thomas Sommer vom Ubiquitin-Code und seinen Bestandteilen spricht, verliert er sich gern in molekularen Details. Er ist überzeugter Grundlagenforscher, doch den klinischen Nutzen hat er stets im Hinterkopf. „Fast jede Therapie kommt aus der Grundlagenforschung“, sagt er. Ohnehin handele es sich um eine künstliche Trennung. Immer wieder hat er diese Haltung in verschiedenen Ämtern am Max Delbrück Center vorangetrieben, die Strukturen dafür mitgeschaffen, dass Forscher*innen hier beste Voraussetzungen haben, um einerseits in spezialisierten Arbeitsgruppen die Grundlagen des Lebens zu verstehen und andererseits neue therapeutische Ansätze zu entwickeln.

Das gelte auch für das Ubiquitin-Proteasom-System. „Wenn man medizinisch relevante Moleküle wie Ubiquitin in Zukunft vernünftig einsetzen will, muss man genau verstehen, wie die enzymatischen Reaktionen dahinter funktionieren“, sagt Sommer. „Da sind noch viele Fragen offen.“ Erste therapeutische Ansätze gebe es schon: Während Proteasom-Inhibitoren das Proteasom im gesamten Körper vorübergehend unterdrücken, und damit Krebszellen abtöten, wirke ein neuerer Ansatz, Protac, spezifischer. „Er nutzt das Ubiquitin-Proteasom-System, um gezielt unerwünschte Proteine aus dem zellulären Geschehen schreddern zu lassen“, sagt er. Etwa solche, die Tumorzellen für ihr Wachstum benötigen.

Sommer will bei den Grundlagen bleiben. Statt in Bäckerhefe verfolgt sein Team das Ubiquitin-Proteasom-System mittlerweile in verschiedenen Säugetierzellen, vor allem in solchen, die zu Muskelzellen werden können. Neue Technologien wie die Fluoreszenzmikroskopie und die Proteom-Analyse mittels Massenspektrometrie helfen dabei, neue Puzzlesteine zu verstehen. Etwa, um eines Tages Krankheiten wie Alzheimer, Multiple Sklerose oder die Lungenkrankheit Mukoviszidose zu behandeln, die eng mit dem Protein-Recycling-System der Zelle zusammenhängen. Denn fehlgefaltete Proteine können in der Zelle krankmachenden Stress auslösen, wenn sie nicht abgebaut werden. Vielversprechend sei auch der Blick auf Muskelzellen. „Aber wenn man in derart komplexe Prozesse eingreift, kann man die Konsequenzen schwer überblicken“, sagt er. „Wir brauchen noch viel mehr spezifische Informationen, um dieses Riesennetzwerk zu verstehen.“

Text: Micro Lomoth

 

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