Hanna Hörnberg

Die Analystin des Verhaltens

Verhalten kann man im Gehirn beobachten. Die Neurowissenschaftlerin Hanna Hörnberg sucht nach molekularen und zellulären Veränderungen, die bei Depression oder Entwicklungsstörungen in Nervenzellen auftreten – und will Wissen schaffen, das bei der Diagnose helfen und Menschen unterstützen kann.

Die zwei Mäuse im Käfig beschnüffeln sich intensiv – zuerst am Schwanz, dann an der Nase, schließlich am Hinterteil. Hanna Hörnberg beobachtet die beiden Tiere auf ihrem Bildschirm. Eine Tracking-Software legt ein Koordinatennetz aus digitalen Punkten über die Körper und verfolgt jede Bewegung minutiös. „Es ist ein bisschen wie Spionage. Wir können rund um die Uhr sehen, was die Mäuse tun, ohne sie zu stören“, sagt sie. „Wir wissen, wann sie schlafen, wie oft sie essen, wie sie sich miteinander verhalten und wie sie auf Veränderungen reagieren.“

Zusammengenommen ergeben die Informationen ein recht genaues Bild von der Persönlichkeit der Mäuse – ob sie anfällig für Stress sind oder ein Verhalten zeigen, das für eine Depression typisch ist. „Bei Menschen wie bei Mäusen ist Stress ein wichtiger Risikofaktor für Depressionen. Wir wollen verstehen, warum manche Mäuse Anzeichen für entsprechendes Verhalten entwickeln, andere aber nicht“, sagt Hanna Hörnberg. Die schwedische Forscherin ist eine hoch gewachsene Frau mit klarem Blick. In ihrer bescheidenen Art spricht sie sie über das komplexeste Organ, das die Evolution hervorgebracht hat: das Gehirn.

Hanna Hörnberg ist Neurowissenschaftlerin und Verhaltensforscherin zugleich. Im Jahr 2020 ist sie mit 36 Jahren als Juniorgruppenleiterin ans Max Delbrück Center gekommen. Mit ihrer Arbeitsgruppe „Molekulare und Zelluläre Grundlagen des Verhaltens“ beobachtet sie, wie sich das Verhalten bei neuropsychiatrischen Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen wie Depression, Schizophrenie oder Autismus verändert. Doch sie belässt es nicht bei äußerlichen Beobachtungen, sondern dringt tief in die Prozesse ein, die in den Neuronen – den Nervenzellen im Gehirn – vor sich gehen und die allem Verhalten zugrunde liegen.

Um Ängstlichkeit im Sozialverhalten von Mäusen zu analysieren, setzt sie ihnen zum Beispiel immer wieder unbekannte Artgenossen in den Käfig und verfolgt ihre Reaktionen mit Hilfe von Kameras und computergestützten Analysemethoden. Anschließend sucht Hörnberg nach biologischen Unterschieden zwischen den Hirnen jener Mäuse, die eher gestresst auf die unbekannten Artgenossen reagieren, und solcher, die sich eher entspannt verhalten, wie das Tier im Video.

„Ängste und Depressionen haben wahrscheinlich viele verschiedene Ursachen. Eine Hypothese besagt, dass Depressionen mit einer abgeschwächten Reaktion auf Dopamin einhergehen, das als Neurotransmitter im Gehirn fungiert. Aber wir schauen auch auf die Immunzellen im Gehirn, die Mikroglia. Denn es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Immunsystem und Depression“, sagt Hörnberg. „Wenn wir molekulare Veränderungen finden, die depressives Verhalten erklären, können wir gezieltere Therapien entwickeln.“

„Ich wollte wissen: Warum bin ich, wie ich bin?“

Hätte Hanna Hörnberg einen ihrer vielen Jugendträume verwirklicht, wäre sie jetzt nicht im Labor auf dem Forschungscampus in Berlin-Buch, sondern als Tierärztin auf nordschwedischen Bauernhöfen unterwegs. Doch an ihrer Schule in Stockholm, wo sie aufwuchs, hörte sie den Vortrag einer Genetikerin. Die Frau erzählte, dass sie Zoologie studiert hatte und im Labor mit genetisch veränderten Tieren forsche. „Das klang für mich total spannend. An dem Tag habe ich beschlossen, auch Zoologie zu studieren“, erzählt Hörnberg.

Mich bewegte, wie genetische Faktoren mitbestimmen, wer wir sind und wie wir uns verhalten und durchs Leben gehen.
Hanna Hörnberg
Hanna Hörnberg Leiterin der AG Molekulare und Zelluläre Grundlagen des Verhaltens

Schon im Grundstudium merkte sie, dass Laborarbeit sie viel mehr packte als zoologische Feldforschung. Sie wollte in Zellen schauen, anstatt Organismen von außen zu beobachten. „Mich bewegte, wie genetische Faktoren mitbestimmen, wer wir sind und wie wir uns verhalten und durchs Leben gehen“, sagt Hörnberg. „Ich glaube, ich wollte verstehen, warum ich so bin, wie ich bin, und wie es dazu kam, dass ich viele andere Interessen habe und eine andere Persönlichkeit bin als meine Schwester – obwohl wir doch sehr ähnlich aufgewachsen sind und viele ähnliche Erfahrungen gemacht haben."

Hörnberg schrieb eine Mail an die renommierte Neurowissenschaftlerin und Entwicklungsbiologin Christine Holt an der Universität Cambridge, um sich als Doktorandin zu bewerben – und wurde genommen. Professorin Holt erforscht das Wachstum von Axonen, also die Fortsätze der Nervenzellen, die deren elektrische Impulse weiterleiten. Während sich ein Embryo entwickelt, müssen sie lange Strecken zurücklegen, um an ihrem Bestimmungsort im Gehirn anzudocken – etwa vom Auge bis zum Mittelhirn. „Sie wissen, wo sie entlangwachsen und wann sie ihr Wachstum beenden müssen, um Synapsen zu bilden“, sagt Hörnberg. „Ich wollte etwas so Komplexes unbedingt auf Zellebene verstehen.“ Sie fand heraus, dass ein bestimmtes RNA-bindendes Protein dafür verantwortlich ist, dass die Axone an ihrer Spitze Rezeptoren ausbilden, die ihnen helfen, sich während ihres Wachstums an bestimmten Zellen zu orientieren – und sich so in die für sie vorgesehene Richtung ausbilden.

In Cambridge legte Hörnberg wichtige Grundlagen für ihre weitere wissenschaftliche Arbeit – und für ihr privates Leben. Sie lernte ihren Mann kennen, ebenfalls ein Neurowissenschaftler, und schloss viele Freundschaften. „Christine Holt war für mich eine wichtige Mentorin, sie hat mir vorgelebt, wie man eine Karriere in der Wissenschaft machen und trotzdem eine Familie und ein glückliches Leben haben kann“, sagt Hörnberg. „Und sie zeigte mir, dass es sich lohnt, ungewöhnliche Ideen weiterzuverfolgen.“

Ein Protein, das das soziale Miteinander beeinflusst

Nach vier Jahren zog es sie wieder stärker zum beobachtbaren Verhalten – und von Cambridge in die Schweiz. Für ihren Postdoc am Biozentrum der Universität Basel beobachte Hörnberg das soziale Verhalten von autistisch geprägten Labormäusen. „Wir haben untersucht, wie sie auf neue soziale Interaktionen reagieren und welche Veränderungen auftreten, wenn wir bestimmte Gene abschalten“, sagt Hörnberg.

Sie stellte fest: Nervenzellen im Belohnungszentrum des Hirns, die dopaminergen Neuronen, sind notwendig, damit die Mäuse auf neue soziale Umstände neugierig reagieren. „Mäuse, bei denen die Aktivität dieser Neuronen ausgeschaltet wurde, können nicht zwischen bekannten und unbekannten Mäusen unterscheiden“, sagt Hörnberg.

Sie fand auch heraus, dass bei dem veränderten Sozialverhalten der Mäuse ein Protein eine entscheidende Rolle spielt: Neuroligin-3. Wenn es in den dopaminergen Neuronen nicht hergestellt wird, verhalten die Nager sich so, als würden die Neuronen selbst abgeschaltet wären – sie reagieren desinteressiert auf soziale Veränderungen. Der Grund: Ohne Neuroligin-3 sind die Neuronen nicht in der Lage, auf Oxytocin zu reagieren. Dieser oft als „Glückshormon“ bezeichnete Botenstoff ist entscheidend für bestimmte Formen des sozialen Miteinanders, insbesondere für die Reaktion auf soziale Neuerungen.

Auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Reaktion der Nervenzellen auf Oxytocin wieder zu aktivieren, untersuchte Hanna die molekularen Unterschiede zwischen dopaminergen Neuronen in Mäusen, denen Neuroligin-3 fehlte, und Wildtyp-Mäusen. Sie stellte fest, dass Dopamin-Neuronen, denen Neuroligin-3 fehlte, deutlich mehr Proteine produzierten. Hörnberg führte daraufhin Tests mit einem Medikament durch, das ursprünglich für die Krebsbehandlung entwickelt wurde und die Proteinproduktion hemmt. Ihr Experiment war ein Erfolg: Das Medikament reduzierte die übermäßige Proteinproduktion der Mäuse, denen Neuroligin-3 fehlte. „Nach der Behandlung waren die dopaminergen Neuronen wieder in der Lage, auf Oxytocin zu reagieren“, sagt Hörnberg. „Die Mäuse verhielten sich ähnlich wie Wildtyp-Mäuse." In der Zukunft könnte diese Erkenntnis helfen, neue Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit neurologischen Entwicklungsstörungen zu entwickeln.

Ob ein Mensch freilich überhaupt von einer Behandlung profitieren würde, sei meist gar nicht eindeutig zu beantworten. „Im Grunde genommen gibt es kein schlechtes Gehirn, und medikamentöse Therapien sollten nicht dazu dienen, einen Menschen zu verändern“, sagt Hörnberg. „Aber wenn jemand chronisch gestresst oder depressiv ist, können Medikamente eine enorme Erleichterung bieten. Sie helfen dabei, sich besser zu fühlen, die eigenen Ziele zu erreichen oder erleichtern einfach das Leben. Es sollte jedoch den einzelnen Menschen selbst überlassen bleiben, ob sie eine Behandlung wollen oder nicht.“

Ängstlichkeit auf molekularer Ebene

Am Max Delbrück Center will Hörnberg ihre Forschung nun ausweiten. Mit ihrem Team möchte sie herausfinden, wie sich Verhalten und Gefühle wie soziale Zurückhaltung oder Ängstlichkeit auf molekularer und zellulärer Ebene bei Entwicklungsstörungen und neuropsychiatrischen Erkrankungen widerspiegeln. Dafür arbeitet sie mit unterschiedlichen, an die Umwelt angepassten oder genetisch veränderten Mausmodellen und verbessert mit ihrem Team fortlaufend die Methoden, um das Verhalten zu beobachten und mit Hilfe von künstlicher Intelligenz auszuwerten. „Wir wollen das Verhalten der Mäuse in einer möglichst natürlichen Umgebung beobachten“, sagt Hörnberg. Neben Video-Tracking kommen auch implantierte Chips zum Einsatz, die Bewegungen präzise aufzeichnen.

„Für mich ist das Max Delbrück Center das perfekte Ort, weil es hier sehr gute neurowissenschaftliche und molekulare Gruppen gibt“, sagt Hörnberg, die zugleich am Berliner Exzellenzcluster NeuroCure forscht. „Ich kann mich hier gut darüber austauschen, ob sich unsere Erkenntnisse von Mäusen auf Menschen übertragen lassen.“

Das Verständnis der Mechanismen im Gehirn, die hinter jedem Verhalten stehen, ist für Hörnberg der Schlüssel, um psychische Probleme zu erforschen. Doch die Komplexität des Gehirns steht einfachen Lösungen im Wege, sagt sie. Zwar könne man möglicherweise die Hirnregionen und die Signalwege identifizieren, die ein spezifisches Symptom verursachen. Doch es sei schwierig, diese gezielt in nur einem Teil des Gehirns zu beeinflussen. Neurotransmitter wie Serotonin beispielsweise können zwar bei Depressionen helfen, aber sie können sie auch unerwünschte Reaktionen auslösen. „Es ist wie bei Krebstherapien, die häufig viele Nebenwirkungen haben“, sagt Hörnberg. „In der Zukunft wollen wir Ziele mit höherer Spezifität identifizieren, um unerwünschte Symptome zu unterdrücken. Aber ohne dabei den Rest des Gehirns zu beinträchtigen.“

Text: Mirco Lomoth

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