Jens Reich und Margitta Hinze bei einer Pressekonferenz 1990

"Eine Erneuerung musste stattfinden"

Die Gründung des MDC auf dem Campus Buch ist ein Stück Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Gespräch mit Jens Reich.

Sie kennen nicht nur das MDC seit 25 Jahren, sondern waren vorher schon fast 25 Jahre hier. Was ist gleich geblieben?

Das Lebensgefühl auf dem Campus – zum Beispiel die Tatsache, dass Ortsteile wie Schwanebeck, Karow, Buch für viele Mitarbeiter, die nicht wandernde Wissenschaftler sind, Heimat sind. Fahrer, Gärtner, Sekretariate und technische Infrastruktur. Die allermeisten sind Gewächse aus der Umgebung. Das ist gleich geblieben.

Früher war das unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern auch so. Die Stellen waren fest, die Gruppen alterten weitgehend gemeinsam. Das Familienhafte war deutlicher ausgeprägt. Wir haben hier gewohnt, die Kinder gingen auf dem Campus in den Kindergarten. Der Austausch, auch mit den Kliniken, war groß. Wie der Klatsch geblüht hat!

Heute sind die Beweglichen und die Unbeweglichen – in jedem Sinn – deutlich voneinander separierbar. Das betrifft die ganze Gesellschaft. Es gibt Zugvögel und Sesshafte. Die Wissenschaftler konzentrieren sich auf ihren Output nach außen, auf internationale Kongresse, Publikationen. Für viele junge Wissenschaftler ist es ein Wasserfloh-Leben, um den Anschluss nicht zu verlieren. Wasserflöhe sinken ab, wenn sie sich nicht bewegen. Dann strampeln sie sich wieder hoch.

Für Wissenschaftler hat das Zugvogel-Dasein auch Vorteile.

Vor kurzem ist ein Artikel in Nature erschienen, dass die Qualität der Wissenschaft mit der Beweglichkeit der Institution korreliert, national und international zu rekrutieren. Genau das haben wir so vermisst. Deshalb war ich so unzufrieden in der DDR.

Biochemisches Labor im Zentralinstitut für Molekularbiologie.

Die Akademie der Wissenschaften war politisch gesehen lange eine rettende Nische. Hier konnte man wenigstens atmen, der Blick auf die Welt war noch vorhanden. Aber der wissenschaftliche Austausch war weitgehend Privileg der Reisekader. Das akademische Fußvolk hatte damit wenig zu tun. Wir waren höchstens an der Betreuung beteiligt, wenn zum Beispiel hoher Besuch aus Großbritannien kam. Das hatte überhaupt keine Leichtigkeit. Und es war wenig. Das war ein klarer Nachteil für die Wissenschaft.

War die Wissenschaft unter den Bedingungen der DDR trotzdem erfolgreich?

Dazu gibt es eine wissenschaftliche Untersuchung mit zwei wichtigen Aussagen: Es ist von 1945 bis 1990 versucht worden, hier einen Leuchtturm der Wissenschaft für die DDR zu bauen. Weltniveau zu erreichen. Das Buch erzählt die traurige Geschichte des konstanten Scheiterns der Planleitung. In den Hahnenkämpfen zwischen dem Ministerium für Wissenschaft und Technik, dem SED-Zentralkomitee Abt. Wissenschaft, dem Rat für Medizin im Gesundheitsministerium und so weiter ist alles zerflossen. Eine furchtbare Lektüre, wenn man sein wissenschaftliches Leben darunter verbracht hat. Der andere Aspekt ist, was unterhalb des Gewühls in der Oberetage an wissenschaftlichen Kleingärten gehegt und gepflegt worden ist. Das liest man mit Sentimentalität.

Was hat sonst gefehlt?

Die erste Klage war: Wir können uns nicht in der Welt vorstellen mit unseren Ideen. Das zweite waren fehlende Testchemikalien. Heute muss man nur eine Rundmail schreiben und jemand auf dem Campus hat sie im Schrank. Damals gab es den Hosentaschen-Import und man musste froh sein, wenn die Grenzpolizei die Chemikalien nicht in ihrer Dummheit Plomben öffnete. Dann die Schwäche der Messtechnik! Es war mühsam, größere Apparaturen am Laufen zu halten. Es fehlte immer irgendein Ersatzteil, die DDR hat ja kaum Forschungstechnik entwickelt, außer für den sowjetischen Raumflug. Selbst die Spektrometer von Zeiss waren veraltet.

Biologische Systeme haben wir mithilfe von partiellen Differentialgleichungen modelliert. Das hatte der Westen in den 1970er Jahren aufgegeben. Dort haben alle auf brute force gesetzt, auf immer schnellere Rechner und größere Speicher. Wir verachteten, dass sie sich nur auf eine Maschine verließen. Da riss langsam das geistige Band zwischen Ost und West.

Warum sind Sie in der DDR geblieben?

Mich hätte man raustreiben müssen. Da ist die Familie, die ganzen Freunde. Es gab die Freitagskreise, die Öffnung in den Ostblock, wo ich beruflich und persönlich ein sehr schönes Ersatzleben aufbauen konnte. Die Dissidenten der Solidarność-Bewegung zum Beispiel haben auf dem Weg von Warschau in den Westen in unserer Wohnung übernachtet. Diese Freundschaften sind der Stasi natürlich aufgefallen, ich bin politisch ganz schön geärgert worden. Aber es hat mich nicht rausgetrieben.

Die Konsequenz des Bleibens war, dass unsere Wissenschaft brave Kleingärtnerarbeit blieb. Zwangsläufig. Alle klagten darüber und wussten das und lebten damit. Weggegangen sind – jedes Mal mit einem riesigen Skandal – ein paar Prozent, die das nicht aushielten.

Biophysikalisches Labor im Zentralinstitut für Molekularbiologie (ZIM)

Wegen Ihres Engagements in der Bürgerrechtsbewegung sind Sie kaltgestellt worden. Für viele sind Sie ein Vorbild, wie man Rückgrat beweist.

Die politische Analyse des Gesamtsystems wurde mir wichtiger als die Analyse des menschlichen Genoms. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Familie auseinanderfallen würde. Meine Tochter ist ja ausgereist, die jüngeren waren auf demselben Weg. Sie wollten nicht so leben wie wir. Also haben wir über innere Reformen nachgedacht.

Der andere Anlass war der drohende ökonomische und ökologische Kollaps. In der Sowjetunion war dramatisch sichtbar, wohin das lief. Stichwort Aralsee. In rund 25 Jahren haben sie es fertiggebracht, einen der größten Seen der Welt auszutrocknen. Hinzu kam der Krieg in Afghanistan. Es war offensichtlich, dass dieses Land in eine Katastrophe steuert.

Ich fand es unbedeutend, ob ich von meinen Funktionen entbunden wurde und nicht mehr Geheimnisträger sein durfte. Ich saß dann an einem kleinen Ostrechner und konnte allein ein bisschen forschen. Das war das Ende meiner wissenschaftlichen Laufbahn. Aber alles andere, die Oppositionsgruppen, war interessanter und lebendiger.

Ging es vielen in Buch so?

Bei der Demonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November 1989 war Jens Reich einer der Redner.

Ich habe Schwierigkeiten damit, den revolutionären Geist von Buch zu evozieren. Bis die Mauer aufging und die Kontrollen nachließen, war ich Feierabend-Oppositioneller. Ich musste pünktlich sein, durfte meinen Arbeitsvertrag nicht verletzen. So mancher Kollege ging mir auf dem Campus aus dem Wege. Also saß ich 1989 hier und habe nachgedacht, telefoniert oder Pamphlete geschrieben. Das ging, von mir wollte ja niemand was. Ich war Persona non grata. Es ist vielen spät klargeworden, dass man doch Freiheiten hatte, weil die Machthaber müde waren.

Dieses Aufwachen aus der Anpassung an die Knechtschaft erfolgte in Buch sehr langsam. Hier haben sie zum Beispiel den Chefs der beiden Kliniken das Misstrauen ausgesprochen – immerhin! Aber das war lange nach dem Mauerfall. Danach brach der Kleinkrieg um die Stasibelastung los. Die Revolution kam zunächst von draußen, von den Massendemonstrationen im Stadtzentrum.

Was hat Ihnen den Mut gegeben, am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz ans Mikrofon zu treten?

Die ungeheure Menschenmenge hat mich eher beklommen gemacht. Ich weiß nicht, ob das immer so ist, wenn man vor einer solchen Riesenzahl von Menschen steht und trotzdem in lauter Gesichter vorn sieht, die etwas rufen. Und dann soll man reden.

Man musste als Redner auf eine Lastwagenpritsche steigen, vorher sahen wir gar nichts. Ringsrum war alles mit Tüchern verhangen. Eine Sperre gegenüber dem Volk, das auf der anderen Seite jubelte, grölte, pfiff und klatschte. Wir standen dahinter und alle musterten sich misstrauisch. Es gab dort ein kleines Café, da saßen Christa Wolf und schlechtgelaunt Heiner Müller. Günter Schabowski und Markus Wolf. Eine Mischung, die man sich gar nicht vorstellen konnte. Der Organisator stand unter wahnsinnigem Stress, weil er sich Sorgen machte, ob die Polizei doch noch eingreift. Er sorgte dafür, dass jeder seine Redezeit einhielt. Militärisch.

Dann kommt man die Treppe hoch und plötzlich stehst Du da und siehst bis ganz hinten nur Köpfe. In jeder Richtung. Was ich nicht mitbekommen hatte, war die fröhliche Stimmung auf dem Platz. Das hat mir später meine Familie gesagt. Die waren alle wie betrunken! Diese Karnevalsstimmung, diese Befreiung, davon hatte ich nichts bemerkt. Vorne stand bestellte Stasi. Die machten hässliche Zwischenrufe und erzeugten einem so einen Strumpf auf dem Herzen.

Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz.

Wie ging es am späteren MDC weiter?

Es war ein Warten auf die Zukunft, eine Zeit der völligen Unsicherheit. Detlev Ganten, der Gründungsdirektor, sagte: Das ist ja großartig, was hier früher alles gewesen ist! Diese Tradition, diesen Geist wollen wir aufgreifen! Er hat flammende Reden gehalten. Der Mittelbau hatte dann Hoffnung.

Die meisten wissenschaftlichen Mitarbeiter schrieben Bewerbungen, sie wollten Stipendien für Auslandsaufenthalte auftreiben oder in Firmen unterkommen. Die Jüngeren sind weggegangen. Forscher mittleren Alters hatten es schwerer. Allein der ganze Bonn-oder Brüssel-Sprech! Da war ich sub-alphabetisiert. Natürlich konnten wir uns auf Englisch verständigen und waren belesen. Aber wir kannten die richtigen Schlagworte für die Anträge nicht. Es hielten sich nur ein paar Gruppen über Wasser.

Eine Erneuerung musste stattfinden, schon weil sich die Themen geändert hatten. Eine sehr gute Gruppe arbeitete zum Beispiel daran, das Patent auf die gentechnische Herstellung von Insulin zu umgehen, um den Stoff für die Bevölkerung der DDR und des Ostblocks zu gewinnen. Diese Sachen mussten abgebrochen werden.

Keine einfache Aufgabe für Detlev Ganten.

Es war eine Gründung auf dem Boden dessen, was da war. Ganten wollte hier nicht Tabula rasa machen, sondern möglichst viel Erhaltenswertes weiterführen. Mit den Berufungen von Helmut Kettenmann, Walter Birchmeier und anderen gab es dann ab 1993/94 die Pionierabteilungen, die sich ins Neuland hinein etabliert haben. Von denen, die hier autochthon waren, ist das zunächst mit Ressentiment aufgenommen worden. Ganten ist trotzdem vorneweg mit dem Versuch, dem Schiff Spanten einzuziehen, Klammern zu finden. Das Thema, das alle gemein hatten, war „molekulare Medizin“. Es hat gedauert, bis das zusammengewachsen ist. Heute sind wir ein an der Medizin orientiertes und sehr erfolgreiches Grundlagenforschungsinstitut.

Gleichzeitig haben sich Wissenschaft und Medizin gewandelt.

Wir sind in die Hoch-Zeit der Sequenzierung hineingekommen. Meine Abteilung zum Beispiel hat am Humangenomprojekt teilgenommen. Wir haben damals zwar nicht sequenziert, aber wir waren beim Zusammenbauen und Identifizieren von charakteristischen Mustern beteiligt. Das war nicht selbstverständlich. Anfangs gab es Stimmen, dass beim Humangenomprojekt ohnehin nichts rauskommt.

Im Grunde war es eine zweite Revolution. War es ein Wendepunkt für das MDC?

Wir haben die Verschmelzung von Zell- und Molekularbiologie miterlebt und gestaltet. In der Forschung in Buch liefen Genetik und Biochemie viele Jahrzehnte nebeneinander her. Schon Timoféeff mit seinen Taufliegen und Negelein mit den Enzymen hatten nichts miteinander zu schaffen. Aber in den letzten 15 bis 20 Jahren sind die Biologie der Zelle und die Biochemie mit dem genomisch-genetischen Zweig verschmolzen. Heute ist es selbstverständlich.

Mich hat es von der ganz abstrakten Molekularbiologie zum Zellbiologischen geschoben. Andere kamen von der Zellbiologie in die andere Richtung. Das hat das Institut geleistet. Die Fundierung zellbiologischen Denkens, was ja die Grundlage für die Erforschung von Krankheiten ist, mit genetischem und neuerdings epigenetischem Unterfutter.

Jens Reich

Was ist für Sie die drängendste bioethische Frage?

Mich beschäftigt der Eingriff in die genomische Ausstattung noch nicht vorhandener Menschen. Das wird über die Vermeidung von belastenden Mutationen begründet werden: Bluterkrankheit, Huntington und so weiter. Im Moment wird versucht, Sperren zu etablieren. Die sind technisch, nicht moralisch begründet. Nehmen wir mal an, es gibt mit Crispr-Cas9 keine Off-Target-Effekte mehr. Wieso soll ich einem Patienten das Huntington-Gen reparieren und dabei die Entscheidung treffen, dass seine Kinder die ursprüngliche Mutation behalten müssen, weil die Keimbahn nicht verändert werden darf? Die Keimbahn wird ihren Nimbus, unabänderlich zu sein, verlieren.

In den Medien ist das Thema eine dystopische Fantasie. Aber was ist, wenn wir durch die Genchirurgie das Leben verlängern können? Wenn wir Anopheles-Mücken dazu bringen, nicht den Menschen zu stechen? Wie wird diese Welt aussehen? Wie gefährlich ist das? Aber auch wie schön! Man kann diese Diskussion nicht nur Bioethikern überlassen. Die biomedizinische Wissenschaft sollte sich in dieser Richtung stärker aufstellen, sich warm anziehen und nach draußen ins Freie gehen. In Städten wie Berlin gibt es sicher Leute – Filmemacher, Schriftsteller oder andere Künstler – mit denen man darüber nachdenken kann. Nicht Doomsday-Szenarien, sondern: Was wird das für eine Zukunft sein?

Was wünschen Sie dem MDC für die nächsten 25 Jahre?

Na, das ist doch klar! Den Nobelpreis müsste mal jemand kriegen! Aber mit unserem Auftrag dürfen wir eigentlich nicht nur den Nobelpreis in den Grundlagenfächern anstreben, so großartig es wäre. Das Ziel ist ein echter Durchbruch bei einer Volkskrankheit wie Alzheimer. Das müsste doch möglich sein. Das wäre was!

Die Fragen stellte Jana Schlütter.

Prof. Jens Reich arbeitet seit 1968 in Berlin-Buch. Von 1992 bis zu seiner Emeritierung 2004 war er Forschungsgruppenleiter in der medizinischen Genomforschung im MDC, heute ist er als Ombudsmann tätig. In den achtziger Jahren engagierte sich Jens Reich für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR und war 1989/90 Mitbegründer des „Neuen Forums“. 1994 bewarb er sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, von 2001 bis 2012 war er im Nationalen/Deutschen Ethikrat.

Jens Reich und Margitta Hinze bei einer Pressekonferenz 1990