Jana Wolf

Die Modelliererin des Lebens

Jana Wolf übersetzt Krankheitsprozesse in Mathematik. Dabei stützt sie sich auf das wachsende Wissen zu zellulären Mechanismen und Daten aus Experimenten. Ihre Modelle sollen die Vielschichtigkeit des Lebens möglichst realitätsnah abbilden und helfen, Therapien präzise auf Patient*innen zuzuschneiden.

Auf dem Schreibtisch von Jana Wolf liegen Stifte nach Farben sortiert nebeneinander. Rot, Grün, Blau und ein paar andere. Sie greift nach dem schwarzen Stift und beginnt, einen zellulären Transportprozess aufzuzeichnen. Ein schwarzer Kreis für die Zelle, ein kleinerer im Innern für ein Mitochondrium, ein roter Pfeil stellt dar, wie Glukose-Moleküle von außen durch die Zellmembran diffundieren. Nach vielen Zwischenschritten koppeln die Moleküle an die Mitochondrien, die mit ihrer Hilfe die Zelle nähren.

Papier und Farben helfen mir, einen Überblick zu bekommen und zu überlegen, wie die Dinge ineinandergreifen.
Jana Wolf
Jana Wolf Leiterin der AG "Mathematische Modellierung zellulärer Prozesse"

„Papier und Farben helfen mir, einen Überblick zu bekommen und zu überlegen, wie die Dinge ineinandergreifen“, sagt Professorin Jana Wolf. Sie strahlt dieses Geordnete aus, das mathematisch Denkende auszeichnet, genauso wie unbändige Kreativität, die ihre Gedankengänge beflügeln. Sie legt die Stifte beiseite. Es war nur eine kurze Vorführung des schöpferischsten Teils ihrer Arbeit, in dem sie molekulares Wissen und Ideen in Zeichnungen und Formeln übersetzt, bevor daraus am Computer komplexe Modelle entstehen. „Theoretische Arbeit hat sehr viel damit zu tun: Welche Prozesse sind beteiligt? Wie greifen sie ineinander? Wie bringe ich alles zusammen? Und wie bilde ich es mathematisch ab?“, sagt sie.

Für einen Überblick auf Papier: Jana Wolfs farbige Stifte.

Jana Wolf ist überzeugte Theoretikerin. Um mathematische, computergestützte Modelle von Krankheitsprozessen zu entwickeln, verbindet sie vorhandenes Wissen zu biochemischen Mechanismen und Signalwegen in Zellen – etwa denen, die den Abbau der Glukose ermöglichen – mit Daten aus Experimenten und von Patient*innen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Multi-Omics-Daten. Das sind Datenberge, die aus Hochdurchsatztechnologien stammen und die Gesamtheit der Gene und Proteine in einzelnen Zellen abbilden, oder auch deren Stoffwechsel. Wolf will aus all diesen Daten Modelle kondensieren, die der Vielschichtigkeit der Vorgänge im Körper gerecht werden und der Realität so nahe wie möglich kommen.

Computermodelle für personalisierte Therapien

Ich sehe für die Medizin keinen Weg ohne Modellbildung und theoretische Ansätze.
Jana Wolf
Jana Wolf Leiterin der AG "Mathematische Modellierung zellulärer Prozesse"

„Zellen bekommen unheimlich viele Signale aus ihrer Umgebung, etwa Wachstumsfaktoren und Nährstoffe, und diese Signale werden über ausgefeilte zelluläre Netzwerke verarbeitet, die zu einer Reaktion im Zellkern führen. Die Zelle beschließt dann zum Beispiel, sich öfter zu teilen oder den Zelltod einzuleiten“, sagt Wolf. Um solche Entscheidungsprozesse mathematisch zu beschreiben, braucht es umfangreiche nichtlineare Modelle. Steht das Formelwerk einmal, lässt sich damit zum Beispiel darstellen, was Signalwege stört und vorhersagen, wie Zellen auf äußere Einflüsse reagieren. „Für komplexe Krankheiten wie Krebs, bei denen viele Signalwege gleichzeitig gestört sind, wäre es ohne Computermodelle gar nicht möglich, die Masse der Daten zu verarbeiten und personalisierte Therapien zu entwickeln“, sagt Wolf. „Ich sehe für die Medizin keinen Weg ohne Modellbildung und theoretische Ansätze.“ 

Aus ihrem Büro im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch schaut Jana Wolf auf Baumkronen. Die Myriaden von Blättern helfen ihr beim Denken, wenn sie von ihren Skizzen oder dem Bildschirm aufschaut, oder für eine Weile draußen spazieren geht, um ihre Gedanken zu entwinden. Hier auf dem Campus und an der Charité – Universitätsmedizin Berlin arbeitet sie mit vielen experimentellen und klinischen Forschungsgruppen zusammen. Einige wollen Krankheitsprozesse verstehen, indem sie den Stoffwechsel von Zellen betrachten, andere schauen eher auf die Signalwege oder die frühe Zellentwicklung. Alle brauchen dafür Modelle. „Sie kommen mit ihren Daten und Hypothesen zu uns und wir entwickeln für diese konkreten Systeme spezifische Modelle, um Mechanismen und die Effekte von Störungen aufzuklären“, sagt Wolf.

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Organe entstehen nicht unabhängig voneinander

„Sehr interessante“ Daten brachte etwa die Stammzellforscherin Francesca Spagnioli mit, die bis 2018 am MDC war. Ihr Team hatte in Maus-Embryonen gemessen, dass die Zahl der Leber-Vorläuferzellen während der Organentstehung viel schneller zunimmt als der benachbarten Bauchspeicheldrüse und der Galle. Aber wie konnte das sein? Die Modelle aus Jana Wolfs Team sollten helfen, eine Antwort zu finden.  

Mit Spagniolis Team diskutierte sie mehrere Thesen. Eine davon war: Vorläuferzellen, die sich in Leber-, Gallen- und Bachspeicheldrüsenzellen teilen können, halten während der Organentwicklung einen Mechanismus aufrecht, über den sie sich gegenseitig beeinflussen und dieser ist für die massive Zunahme von Leberzellen verantwortlich. Das würde bedeuten, dass die Organe nicht unabhängig voneinander entstehen, wie bislang angenommen, sondern unter enger Abstimmung der Vorläuferzellen.

Wolfs Team erstellte Modelle für die These und für die Gegenthese, glich beide so eng wie möglich an die gemessenen Daten an. Ein äußerst rechenintensiver Prozess, den das MDC-Rechencluster ermöglicht. „Das Modell mit dem Austauschmechanismus hat die Daten immer besser erklärt“, sagt sie. Das Team um Spagnioli konnte den Mechanismus daraufhin in Experimenten beweisen. Die Ergebnisse könnten in Zukunft für die Entwicklung regenerativer Therapien wichtig werden, etwa gegen Diabetes.

Von der Theorie in die Praxis – und zurück

Die Kraft der Zahlen und Formeln hat Jana Wolf schon früh erfasst. Bereits in der Schule liebt sie die Allgemeingültigkeit der Mathematik. Bald darauf erkennt sie, wie sie dazu dienen kann, die von der Evolution optimierten Prinzipien des Lebens zu verstehen. Mathematik wird für sie zur Erkenntnismethode. Sie studiert Biophysik an der Humboldt-Universität zu Berlin, spezialisiert sich auf theoretische Biophysik und beschreibt in ihren ersten Modellen den Energiestoffwechsel in Hefezellen und wie zelluläre Netzwerke biologische Rhythmen generieren. „Ich war total fasziniert von der Theorie, aber mir kam das alles auch ein bisschen losgelöst von der realen Welt vor“, sagt Wolf. Sie geht in die pharmazeutische Industrie, arbeitet im Labor, entscheidet sich dann doch für die Theorie. Endgültig, wie sie denkt.

Jana Wolf

In Ihrer Doktorarbeit wendet sie physikalische Theorien an, um ein grundlegendes Problem der Biologie anzugehen: Wie Hefezellen mit Hilfe von Metaboliten, also Stoffwechselsubstanzen, kommunizieren und wie dieser Austausch den Stoffwechsel beeinflusst. Später stellt sich heraus, dass diese Modelle auch Störungen in Krebszellen beschreiben können. „Auf Konferenzen haben meine Modelle das Interesse bei experimentellen Gruppen geweckt und wir haben diskutiert, wie wir sie mit ihren Daten zusammenbringen könnten“, sagt sie. Sie geht als Gastwissenschaftlerin nach Japan und in die Niederlande, baut ihre Modelle für klinische Fragen um und beschließt, dass ihre Zukunft genau hier liegt: an der Schnittstelle zwischen Theorie und Anwendung.

Textmining durchforstet die Fachliteratur

Am MDC gründet Jana Wolf 2008 eine der ersten theoretischen Arbeitsgruppen. Mit jeder Kooperation passt ihr Team ihre Modelle an neue Fragestellungen, Daten und Abstrahierungsgrade an. Mal geht es im Detail um einen einzelnen Signalweg oder einen biochemischen Prozess in der Zelle, dann wieder um das Zusammenspiel vieler solcher Prozesse, um die Entstehung von Krankheit umfassend zu beschreiben und Therapiemöglichkeiten zu identifizieren.

Jana Wolf

„Eine Limitierung ist, dass wir uns für jede neue Modellentwicklung extrem tief in die biologische und medizinische Literatur einlesen müssen, um die Mechanismen so gut zu verstehen, dass wir sie in Formeln übertragen können“, sagt Jana Wolf. „Das kostet sehr viel Zeit.“ Um diese Arbeit zu vereinfachen, kooperiert ihr Team nun mit Informatikerinnen und Informatikern. Textmining-Verfahren sollen die Fachliteratur automatisiert nach den benötigten Mechanismen durchforsten und aufbereiten.

Wir wollen vorhersagen, welche Hemmstoffe wir für wen hinzufügen müssen, um auch die restlichen 40 Prozent zu heilen.
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Jana Wolf Leiterin der AG "Mathematische Modellierung zellulärer Prozesse"

Dies geschieht etwa in einem Projekt zum großzelligen B-Zell-Lymphom, einer Krebserkrankung des lymphatischen Systems, zu der Jana Wolf mit drei experimentellen Gruppen kooperiert. Um die Störungen in den zellulären Signalwegen zu ergründen, die bei jedem Patienten und jeder Patientin etwas anders gelagert sind, beziehen die personalisierten Modelle verschiedene Daten ein. „Bisher wird die Krankheit mit einer Standardtherapie behandelt, die 60 Prozent der Erkrankten hilft. Die anderen bekommen einen Rückfall“, sagt Wolf. „Wir wollen vorhersagen, welche Hemmstoffe wir für wen hinzufügen müssen, um auch die restlichen 40 Prozent zu heilen.“

Geht es nach Jana Wolf, könnten ihre individuell zugeschnittenen Modelle in Zukunft Ärztinnen und Ärzten helfen, für unterschiedliche Krebserkrankungen optimale Therapien anzubieten. Die Mathematik dafür gibt es und die Modelle werden immer genauer, je mehr Daten aus molekularbiologischen Experimenten, klinischen Studien und Multi-Omics-Verfahren in die Modellierung einbezogen werden. Im Grunde braucht es Papier, ein paar farbige Stifte, Ideen und sehr viel Rechenpower, um die Vielschichtigkeit des Lebens so real wie möglich abzubilden.

Text: Mirco Lomoth

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