Thoralf Niendorf hält die Nachbildung eines Herzen in der erhobenen Hand

Der Bildgeber

Wenn der Physiker Thoralf Niendorf an die Grenzen des Machbaren stößt, fordert das seine Kreativität heraus. Mit hochauflösenden Magnetresonanztomographen blickt er immer tiefer in gesunde und kranke Gewebe. Er entwickelt Verfahren, die zellbiologische Prozesse sichtbar machen.

Thoralf Niendorf

Was haben Opernsänger*innen mit medizinischer Bildgebung zu tun? Einiges – wenn man Professor Thoralf Niendorf zuhört. Der Physiker erforscht die Potenziale der Ultrahochfeld-Magnetresonanztomographie (UHF-MRT). Deren Magnetfeldstärke liegt um Größenordnungen über denen der MRT-Scanner, die man aus der Klinik kennt. „Es gab anfangs erhebliche Zweifel, ob sich Ultrahochfeld-Geräte für Herzuntersuchungen eignen“, erinnert er sich. Schließlich bewegt sich das schlagende Herz.  

Um diese Bewegung abzubilden, werden im MRT normalerweise die elektrischen Impulse des Herzmuskels mit einem Elektrokardiogramm (EKG) gemessen. Die Störsignale sind bei einer Magnetfeldstärke von 7.0 Tesla aber so stark, dass das MRT-System die EKG-Signale nicht mehr eindeutig erkennt. „Deshalb ist die Forschung weltweit zunächst daran gescheitert, Herzen im 7-Tesla-MRT scharf abzubilden“, erklärt Niendorf. Bis die Oper ins Spiel kam. 

Den Einfall hat Niendorf während einer Kooperation mit einem Team aus der Phoniatrie – der klinischen Erforschung von Stimme, Sprechen und Sprache. Es wurden MRT-Bilder der Stimmbänder gebraucht. „Dazu haben wir die Profis im MRT-Scanner Arien singen lassen und dabei ihre Stimmorgane vermessen“, erzählt Niendorf. Im Gespräch mit einem Experten aus der Phoniatrie fällt der Groschen: Akustische Signale beeinflusst das Magnetfeld nicht. Herztöne sind deshalb ideal, um das schlagende Herz im MRT-Scanner abzubilden. Er entwickelt neue Hochfrequenzantennen – also Spulen  –  für die Magnetresonanztomogrphie des Herzens und macht mit seinem Team das erste scharfe 7-Tesla-Bild vom menschlichen Herzen. 

Zellbiologische Prozesse visualisieren 

Die besten Ideen entstehen im Dialog mit anderen Fachdisziplinen.
Porträt
Thoralf Niendorf

„Die besten Ideen entstehen im Dialog mit anderen Fachdisziplinen“, findet Niendorf. Seine Gedanken ordnet er am liebsten beim Joggen oder auf dem Wasser. Ein Gespräch im Büro hingegen findet er wenig inspirierend, weshalb der Leiter der Arbeitsgruppe für Experimentelle Ultrahochfeld-MR am Max Delbrück Center das Interview nach draußen verlegt. Er lässt sich auf der Wiese nieder und blickt auf die lichte Fassade des Kubus, in dem die Berliner Ultrahochfeld Facility (B.U.F.F.) ihren Sitz hat. Die Einrichtung beherbergtklinische MRT-Geräte mit einer Magnetfeldstärken von 7.0 Tesla  und 3.0 Tesla  sowie ein tierexperimentelles MRT-Gerät mit 9.4 Tesla. Die Ausstattung hat Weltklasse; sie ermöglicht Spitzenforschung. Niendorf und sein Team treiben nicht nur die Auflösung anatomischer Aufnahmen voran, sie entwickeln neue Methoden, um physiologische und zellbiologische Prozesse zu visualisieren. So eröffnen sie völlig neue Ansätze für die Grundlagenforschung sowie für die Früherkennung und Therapie von Krankheiten. 

Doch der Reihe nach. Die Magnetresonanztomographie gibt es seit Anfang der 1970-er Jahre, sie basiert auf dem Prinzip der Kernspinresonanz. Elektromagnetische Wechselfelder regen dabei Atomkerne in einem starken Magnetfeld an. Aus den Daten zur Aufnahme und Abgabe dieser Signale kann man Bilder von der räumlichen Verteilung der Atomkerne errechnen. Es ist eine Bildgebungsmethode, die präzise anatomische Schichtbilder erzeugt, ohne auf ionisierende Strahlung zurückzugreifen. 

Die ersten klinische MRT-Geräte verfügten über Magnetfeldstärken von etwa 0.5 Tesla, Standardgeräte in Krankenhäusern haben heute zwischen 1.5 und 3.0 Tesla. An den zwei 3.0 Tesla-Geräten im B.U.F.F. entstehen unter anderem Ganzkörperscans von rund 6.000 Proband*innen für die NAKO Gesundheitsstudie. In Kombination mit Daten wie Blutwerten und chronischen Erkrankungen bis hin zu Ernährung und Lebensstil stehen sie anonymisiert der weltweiten Forschungsgemeinde zur Verfügung.  

Keine Grenzen nach oben

Niendorf interessieren neben der Gesundheitsforschung vor allem neue Methoden für die Ultrahochfeld-MRT. „Mit steigender Feldstärke der MRTs nimmt die Auflösung der Bilder proportional zu“, erklärt er beim Rundgang durch den Kubus. Der Forscher räumt alle magnetischen Dinge aus seinen Hosentaschen, bevor er die Tür zum Herzstück des Gebäudes öffnet: dem 7.0-Tesla-Scanner. Rund zehn solche Geräte gab es weltweit, als er die Forschung an dem Ultrahochfeld-Tomographen begann. Schnell war klar, welche Vorteile die höhere Auflösung für die Neurologie birgt – heute setzen etwa 100 Kliniken die beinahe 20 Tonnen schweren 7.0-Tesla-MRTs als Hirnscanner ein.

Wissenschaftler*innen führen ein MRT-Experiment durch.

Längst werden MRT-Geräten mit noch höheren Feldstärken entwickelt. „Aus technischer Perspektive gibt es nach oben keine Grenzen“, sagt Niendorf. Es sei durchaus denkbar, dass MRT-Bilder einzelne Zellen darstellen. Auf den Bildern des 9.4-Tesla-Geräts für tierexperimentelle Studien sind bereits Strukturen bis zu einer Größe von 20 Mikrometern erkennbar. 

Derzeit verbessern die Forscher*innen der Arbeitsgruppe mit dem Gerät die Nierendiagnostik. Das Projekt ist Teil des Sonderforschungsbereichs Nephroprotektion der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die hohe Auflösung der Bilder entlockt den kaum erdnussgroßen Mäusenieren spannende Details. Sie zeigen zum Beispiel sehr früh den Sauerstoffmangel im Gewebe, der Nierenschäden häufig vorausgeht. Für die Intensivmedizin ist das relevant: Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation erleiden häufig ein akutes Nierenversagen, jeder dritte Intensivpatient*in ist davon betroffen. „Mit hochauflösenden MRT-Bildern kann man künftig früher erkennen, dass sich die Nierenfunktion verschlechtert und so Leben retten“, sagt Niendorf. Im nächsten Schritt setzen sie die experimentelle Studie am 7.0-Tesla Scanner an Menschen fort. 

Mit Ritterhelm gegen winzige Tumoren 

Niendorf holt eine MRT-Spule hervor, die an ein Visier eines Ritterhelmes erinnert, gefertigt aus cremeweißem Plastik. Damit kann man den Augapfel im 7.0 -Tesla-Scanner untersuchen, erklärt er. Sein Team hat sie gemeinsam mit Mediziner*innen der Universität Rostock entwickelt. Auf den damit erzeugten hochauflösenden Bildern des Auges waren winzige Tumoren nachweisbar, die die Netzhaut loslösen und die Sehkraft der Patientinnen und Patienten beeinträchtigen. „Diese Tumore waren mit klinischen  3.0-Tesla-Geräten nicht zu detektieren“, sagt Niendorf. 

Thoralf Niendorf

Fast noch interessanter findet der Physiker, dass die hohen Feldstärken ganz neuartige Bildgebungsmethoden erschließen können. Gängige MRT-Geräte regen vor allem Wasserstoff-Kerne an und erstellen aus den Messungen Bilder der Gewebedichte. Mit den höheren Feldstärken werden aber auch Elemente wie Natrium, Kalium, Phosphor oder Fluor im MRT darstellbar. Sie haben wichtige Funktionen im Stoffwechsel und liefern daher neue Ansätze, um physiologische Prozesse zu visualisieren.  

Fluor etwa lagert sich in entzündetem Gewebe an. Im MRT-Bild könnte es deshalb ein Biomarker zur Früherkennung von Entzündungen sein. Die Natrium-Kalium-Pumpe hält in der Zellmembran einen Konzentrationsgradienten der beiden Elemente aufrecht, der Grundlage für die Lebens- und Funktionsfähigkeit von Nervenzellen und anderen Geweben ist und in geschädigtem Gewebe zusammenbricht. Mit einer speziellen Technik gelang es dem Team um Niendorf in Kooperation mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, die Natriumionen für die Bildgebung des Herzens sichtbar zu machen. So können die Forscher*innen auf den Bildern schlagender Herzen zwischen gesundem und geschädigtem Gewebe unterscheiden – eine von vielen denkbaren Anwendungen, die künftig die Diagnostik verbessern könnten. 

Surfbretter Marke Eigenbau 

Berlin ist ein großartiger Wissenschaftsstandort, man findet für jedes Thema Partner.
Thoralf Niendorf
Thoralf Niendorf

Wie er zu seinem Forschungsgebiet gekommen ist? Da muss Niendorf weiter ausholen. Aufgewachsen zu DDR-Zeiten in der Kleinstadt Jüterbog, rund 50 Kilometer südlich von Berlin, ermuntert ihn sein Vater schon früh, Konventionen und Ideologien zu hinterfragen. Seine Eltern befreien ihn einmal im Monat von der Schule, damit er in Berlin in klassische Konzerte und Theatervorstellungen besuchen kann. Als im Westen das Windsurfen aufkommt, bauen Vater und Sohn gemeinsam Surfbretter – und testen die selbst gemachten Boards auf den Brandenburger Seen.  

Dieser Sport fasziniert ihn bis heute, gemeinsam mit seinen beiden Töchtern geht er regelmäßig an der Ostsee aufs Wasser. „Dort bekomme ich den Kopf frei und kann meine Ideen und Gedanken ordnen“, sagt Niendorf. Seinen erfolgreichen Antrag für einen ERC Advanced Grant hat er teilweise an einem Campingtisch am Ostseestrand geschrieben. Auch das Hinterfragen vermeintlicher Wahrheiten behält er bei. 

Heute ist er – nach Stationen an einem Max-Planck-Institut in Leipzig, in den USA bei GE Healthcare und als Professor an der RWTH Aachen – heilfroh, dem Ruf nach Berlin gefolgt zu sein. „Berlin ist ein großartiger Wissenschaftsstandort, man findet für jedes Thema Partner“, sagt Niendorf. Er arbeitet gern in einer Umgebung, in der ihm auch kleine Facetten in der Kommunikation vertraut sind und er sein Netzwerk gut entwickeln kann. Der umtriebige Wissenschaftler hat unter anderem die deutsch-israelische Helmholtz International Research School iNAMES „Imaging from the NAno to the MESo“ ins Leben gerufen und maßgeblich am Aufbau von Helmholtz Imaging mitgewirkt. 

Thoralf Niendorf

Die bildgebenden Wissenschaften mit den Biowissenschaften zusammenzubringen, ist dennoch eine Herausforderung. „Man muss erst eine gemeinsame Sprache entwickeln und lernen, die andere Seite zu verstehen.“ Dann jedoch ergeben sich ganz neue Fragestellungen – und Inspiration.  

Text: Dietrich von Richthofen 

 

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