Udo Heinemann

„Wir sind Anwälte von Menschen, die Sorgen haben“

Professor Udo Heinemann ist wie Jens Reich Ombudsperson für die Gute Wissenschaftliche Praxis. Gewählt in das Amt wurde er vom Wissenschaftlichen Rat im September 2019. Wir sprachen mit ihm über Regeln und Fehlverhalten in der Forschung und sein Selbstverständnis als Berater in Konflikten.

Was versteht man unter „Guter wissenschaftlicher Praxis und was ist dabei zu beachten?

Wir haben uns am MDC klare Regeln zur Guten Wissenschaftlichen Praxis (GWP) gegeben, die alle wissenschaftlich Tätigen mit ihrem Vertrag anerkennen und an die sie gebunden sind. Aktuell passen wir diese Verhaltensregeln an die neuen Leitlinien der DFG an. Gute wissenschaftliche Praxis umfasst aus meiner Sicht alles, was mit der Ethik einer verantwortungsvollen Forschung einhergeht oder einhergehen sollte. Auch all das, was das Vertrauen in die Wissenschaft aufrechterhält. Dieses Vertrauen ist nicht selbstverständlich. Man muss es sich erarbeiten und Wissenschaft so machen, wie sie gemacht werden sollte. 

Das umfasst sehr viele Elemente. Zunächst, ganz trivial, dass wir bestimmte Dinge nicht tun: nicht betrügen, nicht plagiieren, Mitarbeiter*innen nicht schlecht behandeln. Auf der positiven Seite geht gute wissenschaftliche Praxis damit einher, dass unsere Forschung am MDC ethischen Grundsätzen folgt. Dafür ist es wichtig, dass wir unsere Mitarbeiter*innen in die Lage versetzen, dies zu tun. Nicht jeder weiß von selbst, wie man selbstkritisch an ein Experiment und an die Auswertung herangeht, wie man liebgewordene Thesen über Bord wirft, weil sie mit der Wirklichkeit, die man aus dem Experiment herauslesen kann, kollidieren. 

Wie kann solch ein selbstkritisches Arbeiten gelingen?

Man muss sich immer wieder selbst prüfen und infrage stellen. Durch Dialog mit anderen Forscher*innen und vor allem durch Dialog im Labor. Dort wird am schnellsten augenfällig, wenn gegen die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis verstoßen wird. Dann kommt die Ombudsstelle ins Spiel. Wir sind die Instanz, an die man sich wenden kann, wenn man den Eindruck oder den Verdacht hat, dass etwas schiefläuft. 

Könnten Sie Beispiele nennen?

Ich kann hier selbstverständlich nicht über konkrete Fälle sprechen. Denn wenn sich jemand an uns wendet, geschieht dies immer unter dem Versprechen der Vertraulichkeit. Außerdem bin ich noch neu in dieser Rolle. Ich habe allerdings viele Jahre Erfahrung gesammelt in einer ähnlichen Funktion – ich war Ombudsmann für Doktorand*innen und am Zentrum der erste, der diesen Job hatte. 

Wie kam es dazu?

Geschaffen wurde die Stelle als Konsequenz aus einem leider wirklich großen Forschungsbetrug am MDC. Das war – kurz nach der Gründung des Zentrums – ein Super-GAU für die Wissenschaft, aus dem nicht nur wir am MDC viel gelernt haben. Zwei Onkologen, Friedhelm Herrmann und Marion Brach, haben Anfang der 1990er Jahre in großem Stil Publikationen manipuliert:  Sie haben falsche Daten verwendet, sie haben Experimente beschrieben, die sie nicht gemacht hatte, sie haben aktiv gefälscht. All das waren eklatante Verstöße gegen die Gute Wissenschaftliche Praxis. Sie wurden von der DFG untersucht und aufgearbeitet, auch juristisch. Insgesamt hat man in mehr als 90 Publikationen einen konkreten Verdacht auf Fälschungen gefunden oder Fälschungen eindeutig festgestellt. 

Wir am MDC haben damals überlegt, wie wir Betrug und Fälschung künftig erkennen und verhindern können und wie man ein Klima am Forschungszentrum und in den Arbeitsgruppen schaffen kann, dass Einzelne, denen Unregelmäßigkeiten auffallen, die Möglichkeit haben, diese Verstöße anzuzeigen. Bekannt wurde der Betrug damals übrigens durch einen Whistleblower, ein Doktorand in der betroffenen Abteilung. Er ging an die Öffentlichkeit.

Wir haben also die Ombudsstelle für Doktorand*innen eingerichtet, damit junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Möglichkeit haben, über eventuelle Missstände in ihren Arbeitsgruppen zu berichten. Ich habe dies einige Jahre lang gemacht. Ein vergleichbarer Fall ist übrigens nie wieder vorgekommen.

Als Ombudspersonen für Fragen guter wissenschaftlicher Praxis stellen Reich und Heinemann sicher, dass Forschende, die Fehlverhalten gegen „good scientific practice“ vermuten, eine Ansprechperson haben, die sie berät und ihnen in Konfliktsituationen behilflich ist.

Lassen Sie uns auf potenzielle Beispiele zurückkommen, für die Sie zuständig sein könnten…

… das wären Plagiatsfälle, wie Fälschungen oder bewusste Ungenauigkeiten bei Doktorarbeiten, inkorrekte Zitate oder nicht ausgewiesene Zitate von anderen Forschungsarbeiten oder Publikationen. Wenn jemandem so etwas auffällt und er sich unwohl fühlt – und er sollte sich unwohl fühlen! – dann kann er sich an uns wenden.

Schlamperei, Fehler, selektive Auswahl von Daten

Kommen solche Plagiate häufig vor?

Ein solches Fehlverhalten spielt in den Naturwissenschaften eher eine untergeordnete Rolle. Was bedeutsamer ist, ist die Frage der Ehrlichkeit beim Beschreiben von Experimenten. Das ist ein sehr weites Feld: Es erstreckt sich vom unschuldigen Fehler über Schlampereien bis hin zur selektiven Auswahl von Daten, die man bei der Auswertung des Experiments verwendet oder eben nicht verwendet, weil sie nicht zum erhofften Ergebnis passen. Und ganz am Ende des Spektrums stünden etwa erfundene Kontrollfälle oder richtige Fälschungen – dass man zum Beispiel Gele mehrfach verwendet oder einfach Daten erfindet. Bei all dem sollte der Ombudsmann eingeschaltet werden, und all das würde am Ende auch sanktioniert. 

Sie sagten bereits, dass am MDC krasses Fehlverhalten seit mehr als 20 Jahren nicht mehr aufgefallen ist. Womit beschäftigen Sie sich im Alltag?

Die Tätigkeit der Ombudsperson, wie ich sie verstehe, liegt meist im Vorfeld und betrifft viel kleinere Dinge. Es geht meist um die „Credit allocation“, also um die Frage: Wem kann man ein bestimmtes Experiment oder ein Ergebnis zuordnen, wer erscheint überhaupt auf der Autorenliste und wer erscheint an welcher Stelle auf der Autorenliste? Wer darf das Experiment als sein eigenes in der Doktorarbeit verwenden? Im Fall von solchen Unklarheiten oder Streitigkeiten können wir als Ombudspersonen eingeschaltet werden. Dann gehen wir ins Gespräch, vermitteln, tauschen Argumente und Meinungen aus. Wir versuchen, unterschwellig zu verhandeln, bevor es zum Beispiel zum Streit um Publikationen oder Patente oder gar zum Skandal kommt.

„Es ist ein absolut vertrauliches Verfahren“

Bedarf es eines gewissen Mutes, sich als Doktorand*in im Konflikt mit dem oder der Betreuer*in oder Kolleg*innen an die Ombudsstelle zu wenden? Schließlich steht man als junge Forscherin oder Forscher doch in einem Abhängigkeitsverhältnis.

Der erste Schritt sollte keinen Mut erfordern! Denn alles bleibt vertraulich. Wer zu uns kommt, kann sich darauf absolut verlassen. Oft sind wir Ombudsleute eine Art Kummerkasten und agieren als neutrale Stelle: Wir äußern unsere Meinung oder geben einen Rat, der das Problem vielleicht schon entschärft. Im Verlauf des Gesprächs stellen wir aber auch immer die Frage: Wie sollen wir weiter vorgehen? Sollen wir den Chef oder die Chefin oder die Kolleg*innen konfrontieren. Sollen wir das gemeinsam tun, sollen wir das als Ombudspersonen allein tun? Wir beraten zusammen mit den Beschwerdeführer*innen, wie es weitergehen kann. Was wir tun, geschieht immer im Einvernehmen. 

Und wenn Sie Dinge erfahren, die möglicherweise strafbar sind? Es gibt sicher auch gesetzliche Vorschriften, die die GWP tangieren. Wann müssen Sie agieren?

Wenn es wirklich um Offizialdelikte geht, ist dies sicherlich neu zu bewerten. Beim Verdacht von schweren Verstößen müssen andere Stellen eingeschaltet werden, zunächst der Vorstand oder die Rechtsabteilung. Aber auch hier tun wir nichts ohne Abstimmung mit den Klage-Führenden.

Mir ist wirklich sehr wichtig: Wir sind keine Polizeiinstitution, wir laufen nicht durchs Institut und suchen nach Fällen von Fehlverhalten. Wir sind in den allermeisten Fällen Anwälte von Menschen, die Sorgen haben. Ich möchte versuchen, die Konflikte mit diesen Menschen zu verstehen und zu lösen. Oft gibt es sogar Schnittmengen mit anderen Anlaufstellen am MDC. Wenn zum Beispiel ein Arbeitsgruppenleiter eine Mitarbeiterin im Labor schlecht behandelt und sie mobbt, dann verstößt dies klar gegen die Gute Wissenschaftliche Praxis. Es tangiert zugleich die Zuständigkeit und Kompetenz von anderen Beratungsstellen am MDC. Deshalb suchen wir, wenn es sich anbietet und nötig ist, den Austausch mit diesen Verantwortlichen  – dem Personalrat, der Frauenbeauftragten, den Verantwortlichen für die Doktorand*innen, der Anti-Harassment-Taskforce … Manchmal können oder sollen wir sogar die Federführung an diese Stellen abgeben. 

Sehr viel unserer Arbeit basiert also auf Good-Will. Erst wenn dieser aufgebraucht sein sollte, sind manche Fälle nicht mehr auf dem Weg der Beratung zu lösen. Dann müssen andere Wege eingeschlagen werden und ein offizielles Verfahren eingeleitet werden. Auch dazu gibt es klare Verfahrensregeln am MDC. 

Neue Leitlinien

Wie wird am MDC dafür gesorgt, dass alle Forschenden und im Labor Tätigen die Regeln der GWP kennen? Werden neue Mitarbeiter*innen geschult?

Die Regeln müssen jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin mit dem Arbeitsvertrag anerkennen. Aber natürlich sollten wir am MDC dafür sorgen, dass die Regeln für alle, unabhängig von ihrer Position in einer Gruppenhierarchie oder der sozialen Prägung selbstverständlich sind. Ein Beispiel: Nicht jeder oder jede traut sich, seinem Arbeitsgruppenleiter zu widersprechen oder Dinge, die die Chefin vorgibt, infrage zu stellen. Nicht alle haben das gelernt oder geübt. Aber das gehört aus meiner Sicht zu guter kritischer Wissenschaft unbedingt dazu. Das ist ein Lernprozess, den wir aktiv fördern sollten. Bisher gibt es aber nach meiner Kenntnis keine verpflichtenden Informationsveranstaltungen oder Vorlesungen am MDC zu den Regeln der Guten Wissenschaftlichen Praxis. Darüber denken wir aktuell nach. Vielleicht gehört das zur Überarbeitung unserer Leitlinien gemäß dem neuen Code of Conduct der DFG, die wir uns für das Jahr 2020 vorgenommen haben. Diese sollten, denke ich, vom Wissenschaftlichen Rat verabschiedet und getragen werden. 

Interview: Jutta Kramm

Weiterführende Informationen

Kontakte:

Die Ombudsleute haben keine Sprechstunde, sind aber jederzeit ansprechbar:

heinemann@mdc-berlin.de
Telefon: +49 (0)30 9406 3420

jens.reich@mdc-berlin.de
Telefon: +49 (0)30 9406 4265