9.11. Leben

Alles ist möglich

Rainer Leben, Abteilung Einkauf

In der Zeit vor dem 9. November war ich gerade im Zivildienst in einer Nervenheilanstalt in Remscheid, Ortsteil Lüttringhausen in Nordrhein-Westfalen. Das bedeutete für mich viel Arbeit, aber auch viele Unternehmungen mit Freunden.
Ich habe nicht wirklich realisiert, dass dies das Ende der DDR einläutete.
Rainer Leben
Rainer Leben Abteilung Einkauf

Im Oktober und November war eine gewisse Gespanntheit in der Gesellschaft zu spüren. Wir wussten nicht genau, wohin die Demonstrationen und Demokratiebestrebungen in der DDR führen würden. Zu einem Bürgerkrieg? Oder zu einem gewaltsamen Machtwechsel? Wir diskutierten viel darüber, fragten Bekannte, die Verwandte „drüben“ hatten oder Ex-DDRler, die eine offizielle Ausreiseerlaubnis bekommen hatten. Niemand konnte genau sagen, was geschehen würde. Wenige, eigentlich niemand, dachte an eine friedliche Revolution mit dem Ende der Fusion der beiden Staaten.

Der Nachmittag des 9. November 1989 war für mich ein normaler Tag. Am frühen Abend bin ich zu meinen Eltern gefahren und fand meinen Vater gebannt vor dem Fernseher sitzen. Ich sah eine schiere Flut von Menschen, die über die Grenzübergänge nach West-Berlin strömten. Alle waren fröhlich und wurden von genauso fröhlichen Menschen im Westen begrüßt. Abends mit Freunden habe ich darüber gesprochen, wie „geflasht“ die ältere Generation sei, dass sie es noch erleben durfte, das die Mauer fällt. Ich denke, sie waren im Westen diejenigen, die den Mauerfall am stärksten genossen haben. Ich habe nicht wirklich realisiert, dass dies das Ende der DDR einläutete.  Eher dachte ich daran, dass es jetzt eine DDR gibt, in die man ohne Probleme einreisen könne, um die dortigen Städte und Landschaften zu besuchen. Eine schöne Vorstellung, wie ich fand.

Die Tage nach der Maueröffnung waren weiterhin spannend, weil sich alles sehr schnell veränderte. Die westdeutschen Politiker begannen sich in überschwänglicher Freude gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Einzig die Sorge, wie die Siegermächte USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich reagieren würden, wurde immer größer. In dieser Zeit lebte meine Schwester in London und berichtete, dass England die Wiedervereinigung als ein Horrorszenario sähe. Deutschland könne zu einer riesigen Wirtschaftsmacht heranwachsen. Man befürchtete eine Rückkehr zu Großmachtansprüchen wie sie die Nazis hatten. Gespannt waren wir auch auf die Reaktion von Gorbatschow. Es gab Zweifel, ob er die DDR aus dem Warschauer Pakt entlassen würde. Hoffnung machte hier, der von ihm eingeläutete Umbruch in der Sowjetunion.

Berlin – eine Stadt im Wandel

BERLIN 20.02.1990 Zwei Soldaten der Grenztruppen der DDR schauen durch ein Loch in der Berliner Mauer in Berlin.

Ich zog im April 1990 nach Berlin und fand eine Stadt vor, die vollkommen im Umbruch war: im Westen waren die Läden leer gekauft. Im Osten wurden Wohnungen, Keller oder alte Hallen, Fabriken und ehemalige Funktionsgebäude wie die Post zu (illegalen) Kneipen, Konzertsälen oder Künstlerwerkstätten umfunktioniert. Die Menschen agierten in einer Art Machtvakuum, da die Volkspolizei auch nicht mehr genau wusste, was geht, was geht nicht mehr. Der Aufbruch begann, damit die Lebensqualität sich der (vermeintlich) höheren des Westens angleichen konnte. Die Stimmung war: „Alles ist möglich.“

Es gab aber auch viele Ressentiments: der gemeine „Ossi“ sei faul und würde dem Westen auf der Tasche liegen. Der westliche Kapitalismus griff massiv in die Strukturen der ehemaligen DDR ein, um sich vorteilhaft zu positionieren.

Für mich war das Leben in Berlin äußerst spannend, da ich im Studium in einem der ersten Jahrgänge mit Wessis und Ossis war. Wir lernten gemeinsam und sprachen in der Freizeit viel über das Leben auf der anderen Seite. Fasziniert hörte ich von für mich exotischen Berufen wie „Diplom-Schafhirtin“. Auch erfuhr ich, dass Studium und Schulsystem in der DDR gradliniger gehandhabt worden waren. Ich hörte auch viel über die ständigen Verdächtigungen, wer jetzt wo mitgehört oder andere bespitzelt hatte. Es war mir nicht vorstellbar, dass Freunde einen verraten würden, um nichtige Vorteile zu erhalten, wie z.B. eine größere Wohnung. Dass einem eine Wohnung zugesprochen wurde, war mir fremd und wenig verständlich.

Die Zeit der Wende und danach war spannend und lies mich viel erfahren und lernen: auch, dass die Wiedervereinigung tatsächlich behutsamer und weniger vom Westen diktiert hätte stattfinden müssen. Ich habe Freunde gefunden, die in der DDR sozialisiert wurden. Daher konnte ich nüchtern und ohne Vorurteile über das Für und Wider beider deutscher Staaten sprechen.

 

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