Berlin at night

Von West nach Ost und Ost nach West

Professor Helmut Kettenmann, Leiter der Arbeitsgruppe „Zelluläre Neurowissenschaften“

Am historischen 9. November saß ich in einem Flugzeug der Lufthansa über dem Atlantik auf dem Rückflug von einer Kongressreise aus den USA nach Deutschland. Da kam eine Durchsage des Flugkapitäns, dass in Deutschland die Mauer gefallen war. Keiner mochte das so richtig glauben. Kurz darauf flimmerten die Bilder über den Bordbildschirm, eine andere Technik gab es ja noch nicht. Als wir landeten, hatte sich die Welt geändert.
Was genau hat mich gereizt? Es war die Freiheit, die Aufbruchstimmung.
Prof. Dr. Helmut Kettenmann
Helmut Kettenmann Leiter der Arbeitsgruppe „Zelluläre Neurowissenschaften“

Zur DDR hatte ich bis dahin keine Beziehung, ich war vor der Wende nie in der DDR und nur einmal in West-Berlin. Allerdings war ich sehr häufig in Osteuropa, ich hatte sehr enge Beziehungen zu Glia-Forschern in Kiew in der Ukraine. Ich war auch in Prag, der damaligen Tschechoslowakei, war in Ungarn, Polen und Russland. Dort gab es Kollegen, mit denen wir zusammengearbeitet und auch publiziert haben. 

In Westdeutschland hatten wir damals keine neurowissenschaftliche Gesellschaft, im Osten dagegen gab es so etwas schon. Deshalb kam ganz schnell nach der Grenzöffnung die Diskussion im Westen auf: Wie gehen wir damit um? Ich war damals 34 Jahre alt, habilitiert und hatte ein Heisenberg-Stipendium. Es gelang mir das Bundesforschungsministerium davon zu überzeugen, Neurowissenschaftler aus Ost und West zusammen zu bringen und ein erstes deutsch-deutsches Neurowissenschaftler-Meeting zu finanzieren. Ich habe in Vorbereitung dieser Tagung bei einer Rundreise Institute in Leipzig und Magdeburg und die Ost-Berliner Charité besucht. Das Treffen fand im Dezember 1990 in Heidelberg statt – kurz nach der offiziellen Wiedervereinigung. In der Folge hat das Bundesforschungsministerium, inspiriert durch diese Tagung, ein Programm aufgelegt, um in den Neurowissenschaften deutsch-deutsche Kollaborationen zu fördern. Schließlich wurden zweimal zehn Arbeitsgruppen jeweils in Ost und West finanziert. Ich selbst habe auch einen Antrag geschrieben und bekommen – gemeinsam mit Christian Steinhäuser, meinem Partner, mit dem ich bis heute zusammenarbeite. Er arbeitete damals in Jena, heute forscht er in Bonn. 

Arbeitsgruppe Kettenmann: v.l.n.r.: Christiane Gras, Birgit Jarchow, Brigitte Haas, Hannes Kiesewetter, Joo-Hee Waelzlein, Rainer Glass, Sören Markworth, Juliana Bentes Hughes, Susanne Arnold, Katrin Färber, Ulrike Pannasch, Christiane Nolte, Jochen Müller, Antje Heidemann, Liping Wang, Susann Härtig (jetzt Horvat), Helmut Kettenmann

Er ging von Ost nach West – und ich von West nach Ost

Ich habe damals in Heidelberg im Neuro-Forschungsbereich gearbeitet – Tür an Tür mit Detlev Ganten, dem späteren Gründungsdirektor des MDC. Als Detlev Ganten im September 1991 in Berlin-Buch anfing, hat er mich angerufen und eingeladen: „Du musst unbedingt hierherkommen und Dir das anschauen. Das ist wirklich interessant.“ Innerhalb von einer Woche war ich da. Und wirklich, das war interessant! Zwar wurde ich in der ersten Berufungsrunde gar nicht berücksichtigt, weil es in Buch keine Neuro-Klinik gab und ich daher nicht in das Konzept passte, das Grundlagenforschung mit der Klinik verbinden sollte.

Trotzdem hat es mich gereizt, eine Arbeitsgruppe aufzubauen. Für mich war es eine große Herausforderung, es war Neuland. Ich habe also das Geld aus dem Projekt Heidelberg - Jena von Heidelberg abgezogen und nach Berlin-Buch transferiert. Meine Stelle in Heidelberg habe ich parallel weiterbetrieben. Das hieß: drei Jahre lang zweimal in der Woche hin- und herfliegen, hier eine Forschungsgruppe aufbauen, dort eine Forschungsgruppe weiter leiten.

Was genau hat mich gereizt? Es war die Freiheit, die Aufbruchstimmung. Heidelberg war so gesetzt, alles war wohlorganisiert, eingespielt, gut bekannt. Durch meine Pendelei habe ich eine neue, andere Welt gesehen und beide verschiedenen Welten erleben können. Dort, im tiefen Westen gab es damals viel Unverständnis für die Situation der Wissenschaft hier im Osten. Etliche haben gesagt: „Schmeißt doch die Ossis raus, was wollt Ihr denn mit denen?“

Umgekehrt war es aber genauso. Viele ostdeutsche Wissenschaftler haben die Situation im Westen nicht verstanden. Dass z. B. junge Forscher, dass Postdocs gar keine feste Stelle haben und dadurch unter enormem Leistungsdruck stehen, keine geregelten Arbeitszeiten und keine Sicherheit kennen, war erschreckend und für viele neu. 
Diese gegenseitige Fremdheit, dieses Unverständnis habe ich hautnah erlebt als ständiger Pendler zwischen Ost und West. Und auch zu überbrücken versucht.

Ich habe meine Leute aus Berlin mit nach Heidelberg gebracht – und umgekehrt. So konnten die Forscher aus dem Osten die neuesten Techniken lernen, besser ausgebildet werden. Und die Leute aus Heidelberg haben uns hier beim Aufbau unterstützt. Es war also ein ständiger Austausch. Ich habe mich am MDC stark für die Neurowissenschaften engagiert, und Detlev Ganten hat mich darin unterstützt. Als ich irgendwann eine Option hatte, als Institutsdirektor nach Tübingen zu gehen, wurde in Buch entschieden, dass ich die Neurowissenschaften endgültig aufbauen konnte und meine Stelle hier wurde verstetigt.

Die Aufbauphase insgesamt war eine wirklich schwierige Zeit. Auf dem Campus hatten vor dem Mauerfall rund 2000 Menschen gearbeitet. Alle sind zum 31.12.1991 entlassen worden. Das neu gegründete Max-Delbrück-Centrum dagegen bot nur 350 Stellen, und die meisten konnten daher nicht übernommen werden. Manche haben Firmen gegründet. Diejenigen, die eine Stasi-Vergangenheit hatten, sind teilweise schon vorher gegangen. Nur wenige der alten Arbeitsgruppenleiter konnten weitermachen, und es wurden neue aus dem Westen rekrutiert.

Es war in der Tat ein unfairer und ungleicher Wettbewerb zwischen erfahrenen Wissenschaftlern aus dem Osten und dem Westen, bei dem die Ostwissenschaftler kaum eine Chance bekamen.
Prof. Dr. Helmut Kettenmann
Helmut Kettenmann

Aus heutiger Sicht denke ich: Es wäre nicht anders gegangen in dieser Situation, in der das westliche Wissenschaftssystem dem Osten komplett übergestülpt wurde. Das Institut brauchte Wissenschaftler, die mit diesem System vertraut waren. Wir mussten an die nächste Generation denken, die wir hier ausbilden wollten, um sie auf das internationale Niveau vorzubereiten. Selbstverständlich waren die Forscher aus dem Osten genauso intelligent und häufig breiter gebildet. Aber: Sie hatten über die vielen Jahre keinen freien Zugang zur internationalen Fachliteratur, ihnen fehlte der permanente Austausch auf Kongressen, die Möglichkeit des internationalen wissenschaftlichen Austausches. Es fehlten deshalb Kontakte. Es fehlte an Technologien und Material. Der Druck, permanent und intensiv zu veröffentlichen, um weiter Fördermittel zu bekommen, war den Ostwissenschaftlern fremd. Im Einwerben von Drittmitteln für die wissenschaftliche Arbeit waren sie wenig erfahren. Sie kannten weder die Möglichkeiten noch die Strukturen. Das aber ist ein essentieller Teil der westlichen Wissenschaftskultur. Es war in der Tat ein unfairer und ungleicher Wettbewerb zwischen erfahrenen Wissenschaftlern aus dem Osten und dem Westen, bei dem die Ostwissenschaftler kaum eine Chance bekamen.  

Heute ist das MDC eine internationale Forschungsstätte, und die Doktoranden und Postdocs sind weder im Osten noch im Westen zu verorten. Auf dem Campus Buch arbeiten wieder deutlich mehr als 1500 Menschen. Ich lebe nun seit mehr als 25 Jahren in Berlin. Am 9. November 1989 hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich den nächsten Teil meines Lebens, auch meines Arbeitslebens, in Ostdeutschland verbringen würde, und meine beiden Söhne hier geboren und aufwachsen würden. 1989 hat sich die Welt wirklich verändert. 

 

© NASA/ESA/Chris Hadfield