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Der Entdecker der Herzen

Wissenschaft, sagt Norbert Hübner, habe für ihn etwas Exploratives. Man wisse nie genau, wo die Reise hingehe. Dennoch stehen ausgerechnet kartografische Werke im Zentrum seines Interesses: Der Forscher erstellt Atlanten menschlicher Herzen. Nicht nur mit ihnen will er Herzleiden besser verstehen.
Zwei Dinge sind mir als Forscher besonders wichtig. Neugierig zu bleiben und zuzulassen, dass mich – zumindest teilweise – der Zufall treibt.
Norbert Hübner
Norbert Hübner Leiter der AG „Genetik und Genomik von Herz-Kreislauferkrankungen“

Antworten auf drängende Fragen hat Professor Norbert Hübner in seinen 25 Jahren am Max Delbrück Center schon viele gefunden. Aber was genau er in seinem Forscherleben gerne noch erreichen möchte, weiß er nicht. „In meiner Karriere hat sich so vieles zufällig ergeben“, sagt der 55-jährige Wissenschaftler. Mit seinem grauen Haar, der randlosen Brille und dem schlichten dunkelblauen Pullover wirkt er eigentlich, als habe er stets einen konkreten Plan in der Tasche.

„Zwei Dinge sind mir als Forscher besonders wichtig“, sagt Hübner: „Neugierig zu bleiben und zuzulassen, dass mich – zumindest teilweise – der Zufall treibt.“ Tatsächlich wollte Hübner, der am Max Delbrück Center die Arbeitsgruppe „Genetik und Genomik von Herz-Kreislauferkrankungen“ leitet, ursprünglich nicht in die Wissenschaft gehen. Arzt wollte der gebürtige Bremer werden, als er im Jahr 1989, kurz vor dem Mauerfall, in Heidelberg ein Medizinstudium begann.

Der Zufall wollte es anders. Im ersten Semester traf der Student auf den Pharmakologen Detlev Ganten, den späteren Gründungsdirektor des Max Delbrück Centers. Ganten begeisterte ihn nicht nur für die Forschung. Er zeigte ihm, wie inspirierend es sein kann, Menschen mit den gleichen Interessen zusammenzubringen, die sich in ihrer wissenschaftlichen Neugier gegenseitig anspornen und ergänzen.

„Ich habe gleich zu Beginn meines Studiums gemeinsam mit einem Kommilitonen und mit Unterstützung von Detlev Ganten ein Seminar organisiert, bei dem es jedes Mal um ein anderes medizinisches Thema ging“, erzählt Hübner. „Zu diesen Themen haben wir möglichst hochrangige Expertinnen und Experten eingeladen, die mit uns über den Wissensstand und die brennendsten Fragen auf ihrem Gebiet diskutierten.“

Zelle für Zelle das Herz verstehen

Die Freude am Netzwerken ist Hübner geblieben. Für das für ihn wohl wichtigste Projekt, den Atlas des menschlichen Herzens, hat er weltweit Wissenschaftler*innen zusammengetrommelt. Die Forschenden aus Deutschland, Großbritannien, den USA, Kanada, China und Japan – unter ihnen auch seine langjährigen Freunde Jonathan und Christine Seidman von der Harvard Medical School in Boston, an der Hübner einst als Doktorand selbst zwei Jahre verbracht hat – wollen das menschliche Herz Zelle für Zelle verstehen.

Für ihren ersten Entwurf des „Human Heart Cell Atlas“, den sie 2020 in „Nature“ vorstellten, analysierte das Team die RNA von rund einer halben Million einzelnen Zellen und Zellkernen aus sechs Regionen des menschlichen Herzens. „So können wir erkennen, welche Gene in den Zellen jeweils aktiv sind und um welchen Zelltyp es sich jeweils handelt“, erläutert Hübner, der das Großprojekt gemeinsam mit Jonathan Seidman koordiniert. „Dabei haben wir eine unglaubliche zelluläre und molekulare Vielfalt entdeckt: unbekannte Subtypen von Herzmuskelzellen und stützenden Herzzellen, schützende Immunzellen des Herzens und ein weit verzweigtes Netzwerk von Blutgefäßzellen.“

Trotzdem sei dieses Werk erst der Anfang. Seit 2021 arbeitet Hübner zum Beispiel mit nahezu dem gleichen Team an einem entsprechenden Atlas des kindlichen Herzens. „Die ersten acht Organe haben wir bereits auf Einzelzellebene analysiert“, berichtet der Forscher. Doch auch das erwachsene Herz will er künftig mit noch mehr Details kartografieren. „Um erklären zu können, wann, wie und warum aus einem gesunden ein krankes Herz entsteht, müssen wir zunächst das gesunde Organ so gut wie möglich verstehen“, sagt Hübner.

Natürlich hofft er, dass seine Forschung herzkranken Patient*innen irgendwann zugute kommen wird. „Herz-Kreislauf-Leiden sind ja nach wie vor die häufigste Todesursache weltweit“, sagt Hübner. Pro Jahr erkranken mehr als zwanzig Millionen Menschen neu an Herzschwäche, etwa zwanzig Prozent von ihnen sterben innerhalb eines Jahres.

Fasziniert von medizinischen Rätseln

Vor allem zwei Varianten der Herzinsuffizienz haben sein Interesse geweckt: die hypertrophe Kardiomyopathie (HCM), bei der die Herzkammern verdickt sind, und die dilatative Kardiomyopathie (DCM), bei der sich vor allem die linke Herzkammer übermäßig ausdehnt. In beiden Fällen ist die Pumpleistung des Herzens verringert. Im Jahr 2022 konnte Hübner beispielsweise gemeinsam mit Kolleg*innen im Fachmagazin „Science“ zeigen, dass es die DCM keine einheitliche Erkrankung ist. Vielmehr haben Mutationen in den Genen für drei wichtige Proteine des Herzens, die bei DCM gehäuft auftreten, ganz unterschiedliche Folgen. „Das baut auf dem Herzatlas auf. Ohne die Kenntnisse wäre diese Studie nicht möglich gewesen“, sagt Hübner.

Eine weitere rätselhafte Form der Herzschwäche, die er gerade in einem Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG verstehen will, trägt den komplizierten Namen „Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion“, auf Englisch „Heart Failure with preserved Ejection Fraction“ und deshalb kurz HFpEF genannt. „An HFpEF erkranken hauptsächlich Frauen; auch meine eigene Mutter leidet daran“, erzählt Hübner. „Die Pumpleistung des Herzens ist bei diesen Menschen anscheinend völlig normal – und trotzdem sind sie erschöpft , wenn sie mal eine Treppe hochsteigen.“

Solche Rätsel der Medizin zu lösen, treibt Hübner jeden Tag aufs Neue an. Die Frage, wie er sich nach einem anstrengenden Tag im Labor oder am Schreibtisch entspannt, irritiert ihn fast ein wenig. „Meine Arbeit ist mein Hobby“, sagt er. „Von ihr muss ich mich eigentlich nicht erholen.“ Und Wissenschaft sei nun mal kein 9-to-5-Job. Trotzdem versuche er, täglich joggen zu gehen – am liebsten zusammen mit seiner Frau, die ihr Büro gleich um die Ecke hat: Professorin Young-Ae Lee leitet am Max Delbrück Center die Arbeitsgruppe „Molekulare Genetik allergischer Erkrankungen“ und arbeitet zudem einen Tag in der Woche als Kinderimmunologin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Kennengelernt haben sie sich beim Studium in Heidelberg. „Natürlich ist es für uns ein großes Glück, dass wir beide eigene Arbeitsgruppen am Max Delbrück Center haben“, sagt Hübner. Es sei ihnen stets wichtig gewesen, ihre Karriere gemeinsam zu verwirklichen und ein großes Glück, dass sich das gemeinsam so entwickelt hat.

Forschen für die Patient*innen

Besonders gern erinnert sich der Forscher an die gemeinsame Zeit in Singapur, wo sie 2014 ein sechsmonatiges Sabbatical verbracht haben. „Die Zeit an der Duke National University war wirklich ein i-Tüpfelchen meiner bisherigen Karriere“, sagt Hübner. „Keinerlei administrative Aufgaben, durchatmen und sich ganz auf die Wissenschaft konzentrieren – es war einfach toll.“

Im Labor von Stuart Cook hat er den Botenstoff Interleukin 11 (IL-11) sehr intensiv erforscht. Dieser ist maßgeblich daran beteiligt, dass das Herz bei einer HCM, DCM oder auch nach einem Infarkt zu viel Bindegewebe produziert und dadurch versteift. „Mittlerweile kann man eine solche Fibrose im Tiermodell mit Antikörpern gegen IL-11 stoppen“, sagt Hübner stolz. „Erste klinische Studien werden demnächst beginnen.“ Er könne all seinen Kolleg*innen nur zu einem Sabbatical raten.

Ins Schwärmen gerät Hübner aber auch, wenn er von seiner alltäglichen Arbeit als Gruppenleiter erzählt. „Immer wieder kommen junge, wissbegierige und hoch motivierte Menschen in mein Team, die vor allem ein Ziel haben: Neues zu entdecken“, sagt er. „Sie alle bringen eine Kreativität mit, die man in wenigen anderen Berufen so findet.“

Mit den Besten seines Fachs

Wissenschaft funktioniert anders als die Kunst nur im Team.
Norbert Hübner
Norbert Hübner Leiter der AG „Genetik und Genomik von Herz-Kreislauferkrankungen“

Kreative Köpfe um sich zu scharen, liebt der Wissenschaftler seit jeher. Zwischen 2007 und 2012 etwa organisierte er die jährliche „Cold Spring Harbor Conference“ auf Long Island in New York. „Nachdem wir 2004 mit einem großen Konsortium das Rattengenom entschlüsselt hatten, hatten wir mehrere Rattenmodelle entwickelt, um menschliche Herzleiden und andere Erkrankungen besser zu verstehen“, erzählt Hübner. Diese Modelle waren ein großes Thema auf den Konferenzen, zu denen auch Nobelpreisträger wie Svante Pääbo anreisten.

„Die gemeinsame Arbeit mit den Besten des Fachs, der gegenseitige Austausch – all das ist befruchtend und setzt immense Kräfte frei“, sagt Hübner. Er versteht sich nicht als Alleinkämpfer, sondern als Teil eines großen Ganzes, als Rädchen im Getriebe, das die Menschheit letztlich voranbringen wird. „Wissenschaft funktioniert anders als die Kunst nur im Team“, sagt er. Das habe der französische Physiologe Claude Bernard schon im 19. Jahrhundert erkannt. Der sagte damals: Art is I, Science is We. Für Norbert Hübner ist das ein guter Leitsatz. Entdecker sind schließlich fast nie allein unterwegs.

Text: Anke Brodmerkel

 

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