Carmen Birchmeier

Die Kartographin des Lebens

Muskelzellen sind geübt darin, Schäden zu reparieren. Schlägt die Instandsetzung jedoch fehl, übernehmen Stammzellen ihre Erneuerung. Carmen Birchmeier geht den molekularen Signalwegen nach, die diesen und anderen lebenswichtigen Mechanismen zugrunde liegen.
Die Muskulatur ist ein enorm wichtiges Organ für Bewegung und Stoffwechsel. Muskel macht zugleich fast 40 Prozent unseres Körpergewichts aus.
Carmen Birchmeier
Carmen Birchmeier Leiterin der AG „Entwicklungsbiologie und Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen“

Die Muskeln lassen sie nicht mehr los. Weil sie so dynamisch sind, weil sie wachsen und schwinden – und sich erneuern können. „Die Muskulatur ist ein enorm wichtiges Organ für Bewegung und Stoffwechsel. Muskel macht zugleich fast 40 Prozent unseres Körpergewichts aus.“, sagt Professorin Carmen Birchmeier und taucht unversehens wieder ab in molekulare Details und die fein abgestimmten Mechanismen, die den wundersamen Fähigkeiten der Muskulatur zugrunde liegen. Etwa jener, sich nach einer Verletzung zu reparieren oder zu regenerieren.

Birchmeier ist Entwicklungsbiologin und Genforscherin. Am Max Delbrück Center leitet sie die Arbeitsgruppe „Entwicklungsbiologie und Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen“. Sie ist eine Frau mit unstillbarer Neugier, die sich immer wieder neuen Fragen zuwendet, wenn sie nur grundlegend genug sind. Dabei bewahrt sie sich eine spielerische Leichtigkeit, die es braucht, um die Komplexität und Widersprüchlichkeit molekularer Prozesse zu ergründen, ohne dabei unterzugehen. Und an manchen Stellen zu akzeptieren, dass wir sie nicht verstehen – noch nicht. „Das ist eines der großen Rätsel der Natur“, sagt sie dann mit Demut und Entschlossenheit.

Man könnte Carmen Birchmeier als eine Kartographin des Lebens bezeichnen. Sie erkundet die Signalwege, die die Evolution in unser genetisches Programm eingeschrieben hat, um lebensnotwendige Funktionen herzustellen und aufrechtzuerhalten. „Diese Mechanismen sind logisch aufgebaut. Man kann sie aufdröseln und ihre Funktion verstärken oder abschwächen, um Krankheiten zu behandeln“, sagt sie. Ein Beispiel sei der so genannte Notch-Signalweg. „Wir haben gezeigt, dass er für das Wachstum und die Regeneration von Muskeln essenziell ist.“

Die molekulare Steuerung der Muskelheilung

Eine gesunde Muskelfaser besteht aus Tausenden hintereinander geschalteten Einheiten, den Sarkomeren. Darin befinden sich Proteinfäden, die übereinander gleiten und den Muskel anspannen können. Es ist ein meisterhaft orchestrierter Prozess, der in den meisten Fällen reibungslos abläuft. Doch wenn zu viel mechanische Kraft ins Spiel kommt, können kleine Risse in den Sarkomeren entstehen. „Dann wandern Zellkerne an die betroffenen Stellen und aktivieren bestimmte Gene, die an der Reparatur beteiligt sind“, sagt Birchmeier.

Funktioniert diese Spontan-Reparatur nicht, stirbt die Muskelfaser ab. Makrophagen reinigen dann den Ort des Geschehens und Muskelstammzellen treten auf den Plan. „Sie fangen an, sich wie verrückt zu teilen und es beginnt ein zweiter, stammzellenbasierter Reparaturprozess, den wir Regeneration nennen.“ In Mausmodellen ist ein zerstörter Muskel nach sieben Tagen vollständig regeneriert. Doch wie werden diese Heilungsprozesse molekular gesteuert? Und was passiert, wenn die zugrundeliegenden Signalwege gestört sind?

Eine Karriere mit unerwarteten Wendungen

Für Carmen Birchmeier beginnt das Fragen und Ergründen mit einem Chemie-Studium in Konstanz in den siebziger Jahren. Doch die chemische Laborarbeit ist ihr bald zu eintönig. Mit ihrem Mann, Walter Birchmeier, geht sie nach San Diego, und entdeckt die aufkeimende Molekularbiologie für sich. „Das war neu und faszinierend“, sagt Birchmeier. Zurück in Europa, erforscht sie an der Universität Zürich bald darauf für ihre Doktorarbeit, wie aus DNA für die Proteinherstellung wichtige mRNA entsteht. Sie kann zeigen, was diesen Prozess beendet: ein präziser Schnitt eines Nuklease-Enzyms. Sie lernt, Gene zu manipulieren. „Mein Doktorvater Max Birnstiel hat damals die ersten Gene überhaupt kloniert, die für Proteine kodieren“, sagt Birchmeier. Plötzlich ist sie ganz vorne dabei, nutzt fortschrittlichste Techniken.

In Cold Spring Harbor in den USA stürzt sie sich auf ein neues Feld – das der Onkogene, jener Erbgutteile, die Krebs verursachen können. Sie bearbeitete Onkogene, die für Proteine in Signalwegen kodieren, die Tyrosinkinasen. Doch niemand weiß, was die krebsverursachenden Gene normalerweise machen. Birchmeier zeigt: Es sind Entwicklungsgene. Sie steuern das Wachstum von Vorläuferzellen und sorgen mit dafür, dass diese an ihre Bestimmungsorte gelangen, wenn sich die Organe entwickeln. Ein unerwarteter Zusammenhang. „Also bin ich Entwicklungsbiologin geworden“, sagt Birchmeier und lacht über diese unerwartete Wendung.

„So bin ich in die Nervenzellentwicklung gerutscht“

Die Arbeit an Tyrosinkinasen setzt sie nach ihrer Habilitation in Köln 1995 am Max Delbrück Center fort. Eines dieser Enzyme – MET genannt – ist wichtig für die Signalübertragung während der Muskelentwicklung im Embryo. Es bewirkt, dass Muskelvorläuferzellen in die Ansätze von Armen und Beinen wandern. 2002 bekommt sie für diese Erkenntnisse den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehen. Und die Erforschung der Muskeln zieht sie immer mehr in den Bann.

Es sind die ungeklärten Fragen und Ungereimtheiten, die Birchmeier reizen, unbekanntes Terrain zu erschließen. Am Max Delbrück Center untersucht sie weitere Signalwege der Organentwicklung, stellt etwa fest, dass Gene, die Muskelvorläuferzellen wandern lassen, auch die Ausbildung des Nervensystems mitsteuern. „So bin ich in die Nervenzellentwicklung reingerutscht“, sagt Birchmeier in der ihr eigenen, angenehm beiläufigen Art, als wäre es reiner Zufall gewesen. Es gelingt ihr, grundlegende Mechanismen in der Entwicklung des Nervensystems aufzuklären. Doch vor allem konzentriert sie sich auf offene Fragen zur Muskulatur.

Offen war zum Beispiel, ob die vielen Zellkerne in Muskelzellen – bei Mäusen sind es mehr als 200 – alle gleich sind. „Wir haben sie markiert und mithilfe der Einzelkern-Sequenzierung analysiert“, erzählt Birchmeier. 2020 stellt sie klar: Viele Kerne innerhalb einer einzigen Muskelzelle lesen ganz unterschiedliche Gene ab und haben spezialisierte Funktionen, etwa für die Muskelreparatur. Mit ihrem Team macht sie rund 75 Gene aus, die den Abbau beschädigter Proteine in den Sarkomeren der Muskelzellen starten und neue herstellen lassen. Dieses Reparatur-Team nennt sie „Fibre Repair Cluster“.

Wie die Muskelstammzellen aufwachen

Unklar war auch, woher die Muskelstammzellen wissen, dass eine Spontan-Reparatur fehlgeschlagen ist und sie in das Geschehen eingreifen sollten. Der Notch-Signalweg spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Normalerweise halten sich darin zwei Gene die Waage. Beide nehmen rhythmisch zu – und wieder ab. Durch eine Markierung mit lichterzeugenden Enzymen kann Birchmeier die Oszillation unter dem Mikroskop sichtbar machen. Sie erkennt, dass dieses Gleichgewicht die Muskelregeneration ermöglicht. Ihr Team entdeckt, dass ein Protein, der Transkriptionsfaktor HES-1, dafür sorgt, dass die Muskelstammzellen in einer Art Schlafzustand verbleiben und nach dem Ende der Regeneration in den Schlafzustand zurückfinden.

Sie gräbt tiefer, wie immer, findet heraus, dass HES-1 einen anderen Transkriptionsfaktor unterdrückt: MyoD. Solange das Hes-1/MyoD-Gleichgewicht ungestört ist, können die Zellen sich teilen. Gewinnt MyoD jedoch die Oberhand, beginnen die Zellen zu fusionieren, um eine neue Muskelfaser zu bilden. Unklar ist jedoch, wodurch sich das Gleichgewicht zugunsten des einen oder anderen Faktors verändert – und dadurch entweder die Differenzierung oder der Schlafzustand eingeleitet wird. Welche Signalwege hieran beteiligt sind, ist eines der großen Rätsel der Natur. Noch zumindest.

Auch diesem Rätsel wird sie mit ihrer spielerischen Leichtigkeit nachgehen, und es möglicherweise lösen. Derweil genießt sie auch die schöne Seite des Lebens, den Garten hinter ihrem Haus nahe Berlin-Buch, den ihr Mann bewirtschaftet, das abendliche Essen, das sie aus seiner Ernte kocht, das Gläschen guten Rotwein dazu. „Ich spöttel manchmal über mich und behaupte: Ich mache nur zwei Sachen ernsthaft. Wissenschaft und Kochen“, sagt sie.

Künftige Therapien ausloten

Ich spöttel manchmal über mich und behaupte: Ich mache nur zwei Sachen ernsthaft. Wissenschaft und Kochen.
Carmen Birchmeier
Carmen Birchmeier Leiterin der AG „Entwicklungsbiologie und Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen“

Die fein abgestimmten molekularen Prozesse, die Birchmeier freilegt, könnten in Zukunft die Medizin verändern. Denn bei seltenen Muskelkrankheiten wie der Duchenne-Muskeldystrophie ist das Gleichgewicht der Gene krankhaft gestört. „Die Regeneration funktioniert für einige Jahre ganz gut, aber mit der Zeit erschöpfen die Muskelstammzellen“, sagt Birchmeier. Betroffene verlieren ihre Muskulatur, die meisten sterben an Atemnot oder Herzstillstand. Birchmeiers Team hat bereits ein Mausmodell bearbeitet, das der Krankheit genetisch entspricht. Durch Einzelzell-Sequenzierung kam heraus, dass die spezialisierten Zellkerne in den Muskelfasern der kranken Mäuse durcheinandergeraten. Stattdessen erscheinen neue Arten von Zellkernen, zum Beispiel Kerne, die die 75 Gene des Fibre Repair Clusters ausprägen. Aber auch dieser spontane Reparaturmechanismus funktioniert nicht mehr gut genug.

„Wir hoffen, dass wir den Reparatur-Mechanismus irgendwann so gut verstehen, dass wir ihn gezielt auslösen oder verstärken können“, sagt Birchmeier. „Wir wissen ja, dass dafür Signale ausgetauscht werden und man diese verändern kann, um zum Beispiel mehr Reparaturgene anzuschalten.“ Gemeinsam mit der klinischen Forscherin Simone Spuler will Birchmeier Betroffenen helfen. Auch die 75 Gene des Fibre Repair Clusters will sie genauer beobachten. „Ich möchte wissen, ob das wirklich alles Reparaturgene sind und wenn ja, ob wir ihre Aktivität für medizinische Zwecke verändern könnten.“ Sie wird genauer hinschauen, noch mehr Signalwege des Lebens aufschlüsseln. Denn dieses exakt kartographierte Detailwissen wird die Zukunft mitgestalten.

Text: Mirco Lomoth

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