Aerial view of the Hatay Province in Turkey showing destructed buildings

„Es war das Einzige, was ich tun konnte“

Auch drei Monate nach dem großen Erdbeben in der Türkei und Syrien bleibt die Situation prekär. In den ersten Wochen war die internationale Unterstützung groß, auch am Max Delbrück Center. Hilfe wird nach wie vor dringend gebraucht.

Feraye Kocaoglu

Nach der Erdbebenkatastrophe am 6. Februar 2023 im Südosten der Türkei und im Norden Syriens sind von einigen Städten nur Trümmerhaufen übrig. Millionen von Menschen sind obdachlos, müssen in Zelten oder Containern ausharren. Mitte April tobte obendrein ein Sturm, der viele Zelte mit sich fortgerissen hat. „Hilfe ist nach wie vor nötig“, sagt Feraye Kocaoglu. 

Feraye Kocaoglu ist Assistentin mehrerer Forschungsgruppen am Max Delbrück Center. Sie erinnert sich genau, wie sie von dem Beben erfuhr. Am drittletzten Tag ihres Thailand-Urlaubs holte sie die Nachricht morgens im Hotel ein. Ihre erste Sorge galt ihrer Familie väterlicherseits, die in und um Adana lebt. Glücklicherweise war niemandem aus ihrer Verwandtschaft etwas passiert, die Millionenstadt liegt am Rande des Erdbebengebiets und trug zwar Schäden davon – aber nicht so gravierende wie die Städte im Epizentrum. 

In den Monaten zuvor hatte Feraye Kocaoglu die Unterstützung für die Ukraine am Max Delbrück Center koordiniert. Nun schrieben sie türkische und türkischstämmige Kolleg*innen an: Man wolle und müsse unbedingt den Erdbebenopfern helfen. Also begann sie noch in Thailand damit, eine Spendenaktion auf die Beine zu stellen. Dass sich die Zahl der Toten am Ende auf mehr als 57.000 und die der Verletzten auf 110.000 summieren würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.  

„Ich hätte nicht nichts machen können“, erinnert sich Feraye Kocaoglu. Via Mail und WhatsApp organisierte sie eine Sammelstelle für Sachspenden und zwei Essensbasare, einen am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB) in Berlin-Mitte, einen auf dem Forschungscampus in Berlin-Buch. Am Montag nach dem Erdbeben war Feraye Kocaoglus erster Arbeitstag, am Dienstag und Mittwoch fanden bereits die Essensbasare statt. „Unglaubliche 3633 Euro sind dabei zusammengekommen“, freut sich Feraye Kocaoglu. Jede*r konnte nehmen und bezahlen, was er oder sie wollte. 

Vielen Dank an das Team der Helfer*innen!

 

Dass sich die Tische im MDC-BIMSB und auf dem Campus Buch unter herzhaften und süßen Speisen bogen, lag neben Feraye Kocaoglu und Seda Çöl Arslan unter anderem an folgenden Mitarbeiter*innen: Victoria Malchin, Firdevs Murad, Busem Ignak, Seren Sevim Wunderlich, Nihan Yildirim, Merve Alp, Ece Türkmenoglu, Emir Akmeric und Gamze Güney. Herzlichen Dank!

Die Gefühle ausschalten und weitermachen 

Seda Çöl Arslan

Unter den Helfer*innen: Dr. Seda Çöl Arslan, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung. „Seda hat für beide Standorte unglaublich viel gekocht“, erzählt Feraye Kocaoglu. „Es war das Einzige, was ich tun konnte“, sagt die Wissenschaftlerin. Ihre Familie mütterlicherseits stammt aus der Region um Gaziantep, väterlicherseits aus Hatay. In beiden Städten ließ das Beben kaum einen Stein auf dem anderen. Fünf ihrer Verwandten: tot. Ein achtjähriges Mädchen konnte gerettet werden, verlor jedoch ihre Eltern, ihren Bruder und beide Beine. Auf das Entsetzen folgte die Wut darüber, dass Hilfslieferungen nicht schnell genug vor Ort waren. Bis heute lässt sie die Gedanken daran nicht zu nah an sich herankommen. „Wenn ich mich von meinen Emotionen überwältigen lasse, kann ich mein Leben nicht mehr weiterleben – und damit ist niemandem geholfen.“ Also stürzte und stürzt sie sich in Aktivitäten. 

Den Erlös aus den Essensbasaren überwiesen die Helfer*innen an AHBAP, die „Anatolische Volks- und Friedensplattform“. Die Nichtregierungsorganisation war vom ersten Tag an vor Ort, unterstützte die Menschen mit Essen und Wasser, verteilte Decken, stellte Zelte und Wohncontainer zur Verfügung. Viele Mitarbeitende des Max Delbrück Center hatten ebenfalls Decken, Kleidung und Zelte gespendet – es stellte sich aber als schwierig heraus, diese ins Erdbebengebiet zu schaffen. Seda Çöl Arslan und ihre Mitstreiter*innen fanden schließlich ein Berliner Pflegeheim, das einen Hilfstransport organisieren konnte.  

Hilfe ist nach wie vor nötig 

In die Freude des Unterstützer*innenteams über die Hilfs- und Spendenbereitschaft am Max Delbrück Center mischte sich ein Wermutstropfen: „Manche türkische oder türkischstämmige Mitarbeitende haben ein wenig Zuspruch vermisst“, sagt Feraye Kocaoglu. Das habe sie verunsichert. Manche wussten nicht, wohin mit ihrer Sorge oder ob es ihnen jemand übelnimmt, wenn sie vielleicht einmal nicht ganz bei der Sache waren. „Etwas weniger westeuropäische Zurückhaltung wäre vielleicht für manche Kolleg*innen tröstlich gewesen.“ Es sei nicht einfach, in Deutschland zu sein und täglich die Nachrichten mit noch höheren Opferzahlen zu lesen und wenig bis nichts tun zu können.  

Und das Ganze ist noch nicht ausgestanden, immer wieder erreichen die Kolleg*innen beunruhigende Nachrichten. Gut möglich, dass sich ihre WhatsApp-Gruppe demnächst wieder auf einen Kuchenbasar verständigt, sagt Feraye Kocaoglu. 

Text: Jana Ehrhardt-Joswig 

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