Eine Brille liegt auf einem aufgeschlagenen Buch

Was lesen Sie gerade, Herr Hodge?

Unser Lesetipp kommt diesmal von Russ Hodge, Wissenschaftsautor und Trainer in der Abteilung People & Culture am Max Delbrück Center. Er empfiehlt einen packenden Roman über Musik, Familie und Identität. Die Geschichte spielt in Nachkriegsamerika in der Zeit Bürgerrechtsbewegung.

Ein Schriftsteller für die Ewigkeit – für Forschende

Zum mindestens dritten, vielleicht sogar zu vierten Mal habe ich eines der schönsten, kraftvollsten und lyrischsten Bücher in englischer Sprache gelesen. The Time of Our Singing” war Richard Powers' achter Roman. Ich finde, er hätte das Buch „Orfeo“ nennen sollen. Aber diesen Titel sparte er für ein später folgendes Werk auf, das seltsamerweise nicht von einem Musiker, sondern von einem Gentechniker handelte, dessen Kunst die Manipulation bakterieller Genome ist. „The Time of Our Singing – Der Klang der Zeit“ handelt von Musik, und es ist so gut, dass Powers dafür meines Erachtens den Pulitzer-Preis hätte gewinnen sollen. Das hat er nicht, aber im großen Ganzen spielt es keine Rolle. Einige Jahre später erhielt er ihn für einen Roman namens „Overstory“, auf Deutsch: „Die Wurzeln des Lebens“.

Als ich vor 27 Jahren anfing, mit Wissenschaftler*innen zu arbeiten, war ich verwirrt und ein wenig beunruhigt darüber, dass viele von ihnen keine Romane lasen. Alle, auf die das immer noch zutrifft, sollten Richard Powers entdecken, der so fließend über Molekularbiologie, Neurowissenschaften, künstliche Intelligenz und Programmierung schreibt wie über Musik oder jedes andere von ihm behandelte Thema. Sein jüngster Roman, „Bewilderment“ („Erstaunen“), wird aus der Perspektive eines Astrophysikers erzählt, der nach Leben auf fernen Planeten sucht. Ein zweites Thema der Geschichte befasst sich mit Forschenden, die die MRT-Technologie verwenden, um ihrem Kind zu helfen, das das Asperger-Syndrom hat.

Alle diese Bücher sind großartig, aber für mich und alle, die Musik lieben und es ernst damit meinen, ist Der Klang der Zeit" schlicht atemberaubend. Es ist schwer zu erklären, wie es Powers gelingt, dass das Lesen einer ganzen Seite über zwei Menschen, die eine Bach-Arie singen, zu eine spirituelle Erfahrung wird. Aber so ist es.

Dies ist auch ein großer, epischer Roman über Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg, über Rassismus und die Bürgerrechtsbewegung. Die Hauptprotagonisten sind Jonah Strom, der die Stimme eines Engels hat, und sein Bruder Joseph, der ihn am Klavier begleitet. Sie sind die Kinder eines weißen jüdischen Physikers aus Deutschland. David Strom entkam dem Holocaust knapp, in Amerika angekommen heiratete eine schwarze Sängerin, beide lieben Musik, beide singen. Dieses ungewöhnliche Paar trifft sich bei einem berühmten Konzert von Marian Anderson im Jahr 1939. Anderson war ebenfalls eine amerikanische schwarze Frau, vielen halten sie für die beste Sängerin ihrer Zeit; sie sang für die Könige Europas, durfte aber nicht in viele Konzertsälen in den Vereinigten Staaten auftreten. Bei einem Konzert, das sie auf der Mall in Washington gibt, begegnen sich diese beiden ungewöhnlichen Menschen, und sie heiraten entgegen aller Widrigkeiten. Sie bringen zwei Söhne und eine Tochter in eine von ihnen geschaffene Welt, eine Welt, die von der Realität abgeschirmt ist, ein ganzes Universum, das fast ausschließlich aus Musik und Gesang besteht.

Wir werden bald viel von ihrer ersten Begegnung lesen, aber der Roman beginnt später, im Jahr 1961. Die Szene: Jonah ist 20 Jahre alt und steht kurz davor, wegen eines Wettbewerbs namens „America's Next Voice“ bekannt zu werden. Schon mit ersten Tönen, die er singt, ist klar, dass er gewonnen hat; als er fertig ist und Joseph den letzten Akkord spielt, sind die Zuhörerinnen und Zuhörer in erstauntes Schweigen versetzt. Dann bricht eine Welle des Applauses über die Brüder herein. „So sehe ich ihn, auch wenn er danach noch ein Dritteljahrhundert zu leben hat“, schreibt Joseph, der Erzähler des Romans. „Das ist der Augenblick, in dem die Welt ihn entdeckt, der Abend, an dem ich höre, wohin seine Stimme unterwegs ist. Ich selbst bin auch auf der Bühne, sitze an dem zerkratzten Steinway mit den abgegriffenen Tasten. Ich begleite ihn, versuche mit ihm Schritt zu halten und nicht der Sirenenstimme zu lauschen, die mir zuflüstert: Lass die Finger ruhen, dein Boot zerschellen an der Tasten Riff, und stirb in Frieden.“

Aus der Menschenmenge kommt nach der Vorstellung ein weißer Mann auf sie zu und fragt: „Was seid ihr Jungs eigentlich?“ Menschen gemischter Herkunft passen nicht in seine Kategorien. Ein Teil des Problems ist, dass die Brüder eine Kunstform beherrschen – die „klassische Musik" – die so europäisch, so weiß ist. Dieser Frage werden die Brüder Strom und ihre Schwester immer wieder begegnen, während sie sich durch die Unruhen der 1960er Jahre bewegen. Amerika versucht, sich gewaltsam und mit großen Schwierigkeiten aus seiner eigenen Version der Apartheid zu lösen. Identität ist ein Leitmotiv, das die Familie begleitet, während sie sich über drei lange Jahrzehnte entwickelt, anpasst und großes Leid erfährt.

Kulturelle Aneignung ist ein wichtiges Thema in der Literatur, und das schon seit langer Zeit. Als der schwarze amerikanische Autor James Baldwin 1955 ein Schweizer Dorf besuchte, das „vergleichsweise abgeschiedener und primitiver“ war als seine Geburtsstadt New York City, wies er darauf hin: „Unter dem Gesichtspunkt der Macht können diese Leute nirgendwo auf der Welt Fremde sein… Auch die Ungebildetsten unter ihnen haben auf eine Art, die mir verwehrt ist, eine Beziehung zu Dante, Shakespeare, Michelangelo, Aischylos, da Vinci, Rembrandt und Racine…“ 

Baldwin wurde eine Generation vor den Strom-Brüdern geboren. Aber zwei oder drei Jahrzehnte später, in einem Buch, das in einem fiktiven Amerika spielt, wirft seine Lektion einen langen Schatten, der die Charaktere fortwährend verschlingt. In Europa entkommen Jonah und Joseph kurzzeitig, einigermaßen glücklich, in eine Welt, die sie akzeptiert. In Holland bewegt sich Jonahs Stimme rückwärts in der Zeit, auf der Suche nach der Essenz des Gesangs, folgt der Renaissance der alten Musik, die in den 1970er Jahren aufkam und die Musik auf Töne, Phrasen und Einfachheit reduzierte. Er befreit seine Stimme von allem Bombastischen und Romantischen und strebt nach spiritueller Reinheit.

Als jemand, der in diese Musik eingetaucht ist und sie aufführt, spüre ich, dass Powers es schafft, diese Ästhetik in Sprache zu übersetzen; er macht es genau richtig, und ich habe keine Ahnung wie.

Künstler*innen müssen sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen. Letztendlich zieht es die Strom-Brüder fast zwangsläufig zurück nach Amerika, zu einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal. Im Laufe seines Lebens sucht Jonah, wie Orpheus, nach etwas, das im wahren Leben zu gut ist, oder zu irgendetwas, um daran festzuhalten. Aber wie der Mythos kann eine Tragödie immer wieder erzählt – und gelesen – werden, da sie die eigentümliche Mischung aus Ekstase und Schrecken mit sich bringt, die zu unserem Leben gehört. Kunst versucht, dem Gefängnis der Sterblichkeit zu entkommen; natürlich kann sie das nicht. Doch in seiner Erzählung gelingt Richard Powers, was ihm immer gelingt. Am Ende des Buches schließt sich der Kreis, zurück zum Anfang, in einem seiner einzigartigen magischen Momente. Was Powers erreicht, ist nur in der Literatur möglich. Die Literatur hat ein Potenzial, das über die Wissenschaft hinausgeht; es gibt Dinge, die kann nur die Kunst leisten, und sie sind für unsere Existenz und unsere Kultur ebenso wichtig wie all die Reichtümer, die die Wissenschaft in unser Leben bringt.

Richard Powers: Der Klang der Zeit. S. Fischer, 2014